aturgewächs Sie reden wirklich, sie stammeln nicht und schwätzen auch nicht nach; sie bewegen sich und leben wirklich, nicht so unheimlich maskenhaft, wie sonst Menschen zu leben pflegen: weshalb es uns in ihrer Nähe wirklich einmal menschlich und natürlich zumute ist und wir wie Goethe ausrufen möchten: „Was ist doch ein Lebendiges für ein herrliches köstliches Ding! wie abgemessen zu seinem Zustande, wie wahr, wie seiend!"
Ich schildere nichts als den ersten gleichsam physiologischen Eindruck, welchen
Schopenhauer bei mir hervorbrachte, jenes zauberartige
Ausströmen der innersten Kraft eines Naturgewächses auf ein anderes, das bei
der ersten und leisesten Berührung erfolgt; und wenn ich jenen Eindruck nachträglich
zerlege, so finde ich ihn aus drei Elementen gemischt, aus dem Eindrucke seiner
Ehrlichkeit, seiner Heiterkeit
und seiner Beständigkeit. Er ist ehrlich, weil er
zu sich selbst und für sich selbst spricht und schreibt, heiter, weil er das
Schwerste durch Denken besiegt hat, und beständig, weil er so sein muß. Seine
Kraft steigt wie eine Flamme bei Windstille gerade und leicht aufwärts, unbeirrt,
ohne Zittern und Unruhe. Er findet seinen Weg in jedem Falle, ohne daß wir auch
nur merken, daß er ihn gesucht hätte; sondern wie durch ein Gesetz der Schwere
gezwungen läuft er daher, so fest und behend, so unvermeidlich. Und wer je gefühlt
hat, was das in unsrer Tragelaphen-Menschheit der Gegenwart heißen will, einmal
ein ganzes, einstimmiges, in eignen Angeln hängendes und bewegtes, unbefangenes
und ungehemmtes Naturwesen zu finden, der wird mein Glück und meine Verwunderung
verstehen, als ich Schopenhauer gefunden hatte.
- Friedrich Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher (1874)
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