Naturgesetz  Es ist wahr: der Mensch lebt gesondert und abgetrennt vom anderen in seiner Haut, nicht nur, weil er muß, sondern weil er es nicht anders will. Er will so abgesondert sein, wie er ist, will allein sein und will vom anderen im Grunde nichts wissen. Der andere, jeder andere in seiner Haut, ist ihm recht eigentlich widerlich, und nicht widerlich ist ihm ausschließlich und ganz allein die eigene Person. Das ist Naturgesetz, ich sage es, wie es ist. Sitzt er nachdenkend am Tisch, stützt den Ellbogen auf und den Kopf in die Hand, so legt er wohl ein paar Finger an die Wange und einen zwischen die Lippen. Gut, es ist sein Finger und sind seine Lippen, und also was weiter? Aber den Finger eines anderen zwischen den Lippen zu haben, wäre ihm unausstehlich, es würde ihm schlechthin zum Ekel gereichen. Oder nicht? Auf Ekel läuft überhaupt rundsätzlich und von Natur sein Verhältnis zum anderen hinaus. Dessen leibliche Nähe, wird sie allzu bedrängend, ist ihm fatal aufs äußerste. Er würde lieber ersticken, als der Nähe fremder Leiblichkeit seine Sinne zu öffnen. Es nimmt darauf unwillkürlich auch jeder Rücksicht in seiner Haut und schont nur die Empfindlichkeit seiner eigenen Sonderung, indem er die des anderen schont. - Thomas Mann, Felix Krull

Naturgesetz (2) Was die Gesetze der Ehre anlangt, die ihnen das verböten, so machen sich nach den Angaben Boccaccios die meisten Frauen darüber lustig und haben ihre gewichtigen Gründe dafür: die Gesetze der Natur gehen vor, sie tut niemals etwas vergebens, sie gab ihnen so edle Glieder und Körperteile, damit sie gebraucht und betätigt würden, nicht um sie brach und müßig liegenzulassen; man könnte ihnen weder etwas befehlen noch gebieten, weil sonst die Spatzen keine Nester drin bauten, und Gefahr vorliegt, daß es keinen Fuchsschwanz mehr gibt, sie herauszufegen; ja oft entstehen daraus, daß sie diesen Körperteil brachliegen lassen, große Übel und Lebensgefährdungen, besonders aber eine Erstickung der Gebärmutter, derenthalben man so viele sterben sieht, daß es zum Erbarmen ist, und zwar eine Menge schöner, ehrbarer Damen, alle um dieser gräßlichen Enthaltsamkeit willen; das Hauptmittel dagegen ist der fleischliche Beischlaf, sagen die Ärzte, und besonders mit sehr starken und tüchtig begliederten Leuten.   - (brant)

Naturgesetz (3) Ursprünglich waren wir nicht dazu geschaffen, Gelehrte zu werden; vielleicht wurden wir es durch eine Art Mißbrauch unserer organischen Fähigkeiten, und zwar auf Kosten des Staates, der eine Menge von Müßiggängern ernährt, welche die Eitelkeit mit dem Namen Philosophen ausgezeichnet hat. Die Natur hat uns einzig und allein dazu geschaffen, glücklich zu sein; ja, uns alle — vom Wurm, der auf dem Boden dahinkriecht, bis zu dem Adler, der sich in den Wolken verliert. Deshalb hat die Natur auch allen Lebewesen einen gewissen Anteil am Naturgesetz verschafft, einen mehr oder weniger trefflichen Anteil, je nachdem die mehr oder weniger gut beschaffenen Organe jedes Lebewesens es zulassen.

Wie sollen wir nun das Naturgesetz definieren? Es ist ein Gefühl, das uns lehrt, was wir anderen nicht antun sollen, weil wir nicht wollen, daß man es uns selbst antue. Darf ich zu dieser allgemeinen Idee noch bemerken, daß dieses Gefühl, wie mir scheint, nur eine Art Furcht oder Angst ist, die für die Gattung ebenso heilsam ist wie für das Individuum; denn vielleicht achten wir nur deshalb den Geldbeutel und das Leben des anderen, um unsere Güter, unsere Ehre und uns selbst zu erhalten, gleichwie jene Ungeheuer des Christentums, die nur deshalb Gott lieben und so viele vermeintliche Tugenden annehmen, weil sie die Hölle fürchten. - Julien Offray de La Mettrie, Der Mensch eine Maschine. Stuttgart 2001, zuerst ca. 1750

Naturgesetz (4) »Jedes Lebewesen«, sagte der Herr vom Neptun, »hat auch eine besondere Abstoßungskraft. Die gelehrten Herren der Erdrinde dürfen doch nicht Erdrindenverhältnisse so ohne weiteres in den ganzen Kosmos übertragen. Glauben denn die Herrschaften, daß unser Sonnensystem nur Wiederholungen aufweist? Weil der fallende Apfel von der Erde angezogen wird - deswegen werden doch die Planeten noch nicht von der Sonne angezogen. Glauben die Herrschaften vielleicht, daß der ganze unendliche Raum von ein paar Gesetzen total beherrscht wird? Sie dürfen doch nicht unser Sonnensystem wie einen größeren menschlichen Verfassungsstaat behandeln. Aber die physikalischen Theorien - auch die über die Erhaltung der Kraft — entstanden in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts Ihrer Zeitrechnung. Und da ist es Ihnen nicht übel zu nehmen, daß Ihnen damals die Verfassungsstaaten so zu Kopfe stiegen, daß Sie auch gleich das Sonnensystem zum Verfassungsstaat stempelten. Es ist nur ein Wunder, daß Sie nicht auch ein kosmisches Parlament in unserm großen Sonnensystem entdeckten. Sie warfen die Menschengesetze und die Weltengesetze in einen Topf. Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen jetzt ein künstliches Gelächter vormache.«  - Paul Scheerbart, professor Kienbeins Abenteuer. In: Phantastische zeiten, Hg. Franz Rottensteiner. Frankfurt am Main 1986
 
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