Naturgedicht   Die Natur läßt sich nicht planen, das Naturgedicht schon. Sie schaut alles an, diese riesigen Buchten voll Überraschungen, die beißen und bluten und schreien. Bald wird sie tot sein und sich auflösen. Aber heute noch ist es ihr möglich, Vorbild Natur und Ergebnis Gedicht miteinander zu vergleichen. Das Vorbild verändert sich ständig, daher ist das Ergebnis ungleich besser. Es ist wie gefroren, der Schlüssel aus Sprache kratzt hilflos im Schloß der Dummheit. Sie gibt sich eine ausgezeichnete Note. Sie ist der Schiedsrichter, der die Grashalme austauscht, die Tanne vom Feld nimmt und nachspielen läßt. Dann legt sie ihre Gedichte auf den Tisch, was sie wiegen, das haben sie. Aus. Ist eins fertig, wird ein neues angefangen. Sie knattern, Wetterfahnen. Man kann in sie schneiden ohne daß es blutet. Die Dichterin war zu ihren Lebzeiten Französischlehrerin und wollte es wenigstens im Alter nicht mehr bleiben. Sie wollte auf mindestens 1000 m hinaus (so hoch!). Ihre Gedichte sollen dumpfer Nachhall sein, eine unfreiwillige rote Verzierung auf dem Boden. Wirklichkeit! Auch sie möchte endlich von der Natur profitieren wie der dumme Wanderer. Sie schaut auf einen Stein. Sie sieht sich ähnlich einem Raubvogel, hoch oben auf der Luft federnd. Sie schreibt alles in linierte Schulhefte hinein. Dort hält sie die Wunder fest, wenn sie entwischen wollen, tropfende Spuren auf dem Beton der kleinen Treppe, die zu ihrer Eingangstür führt. Sie ist schlecht zufuß. Manchmal ziehen Gewitter über sie hinweg, Leidenschaften am Himmel. Niemand soll glauben, in ihr geschähe nichts mehr. Sie denkt an den jungen Holzfäller wie an eine Brandung vom Ozean. Vögel schreien vor dem Stall. Sie ist närnlich auf dem Höhepunkt des Schaffenshaufens angekommen, dort kräht sie herrlich, eine Notbrigade, ohne die keiner weiter wüßte oder wohin. Ihr Tod ist unvermeidlich, fällt ihr heiß ein. Noch etwas erleben und sei es auch gemein. Niemand außer ihr und den Sportlern geht mehr in die Natur. Alle schauen sie auf Bilder, Schirme, Karten, machen sich vieles Herrliche mit schwachen Schuhn betretsam, das sie sofort wieder von sich schleudert. Da können sie genausogut ihre Gedichte lesen.    - Elfriede Jelinek, Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr. Reinbek bei Hamburg 1998
 

Gedicht Natur

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