Natürlichkeit  Der Sohn eines Landwirts, der studierte, um später Arzt zu werden, hatte in der Stadt bei einer Witwe ein Zimmerchen gemietet; dort sprach er häufig und lange mit dem saudummen Sohn der Witwe und erklärte ihm seine Philosophie.

Die Philosophie des Landwirtssohnes besagte: Wenn einer sich nicht natürlich benimmt und nicht alles so natürlich macht wie das Vieh, soll er sich lieber erschießen; die Leute, die zu viele Umstände machten, gefielen ihm nicht, denn es waren keine natürlichen Leute, sehr gut gefiel ihm hingegen die Chemie, denn das war etwas Natürliches.

Im Obstgarten seines Vaters wuchsen Äpfel und Birnen; aber zu jener Zeit waren zu viele Äpfel und Birnen auf dem Markt und der Obstgarten brachte nichts mehr ein.

Der Landwirtssohn glaubte, sein Vater sei falsch wie alle Bauern, und der Vater war vom Sohn eingeschüchtert, weil der zur Universität ging. Daher sprachen die beiden nicht miteinander, sondern brüllten einander nur gelegentlich an.

Der Sohn schrie dem Vater ins Gesicht, er sei ungebildet und verstehe sich nicht einmal auf seine eigenen Geschäfte. Und zum Beweis dafür verkaufte er einmal die gesamte Apfel- und Birnenernte, obschon sie in jenem Jahr durch den Hagel verdorben und somit unverkäuflich war.

Dann kaufte der Sohn des Landwirts ein Auto und machte sich auf die Reise, um bei dem Großhändler, dem er das Obst verkauft hatte, das Geld zu kassieren.  - (gcel)

Natürlichkeit (2) Aber war denn die Tyrannei, die in unserer Mitte entstanden war, wirklich das Ergebnis natürlicher Eigenschaften? Was sind denn überhaupt natürliche Eigenschaften? Es ist der Grad an Intelligenz, an Vorstellungskraft, an Willen, mit dem einer zur Welt kommt - was das Geistige anbelangt, selbstredend, denn mit den natürlichen physischen Eigenschaften ist das etwas anderes. Ein Typ nun, der einen anderen befehligt, unabhängig von den gesellschaftlichen Fiktionen, tut das zwangsläufig, weil er ihm in dieser oder jener natürlichen Eigenschaft überlegen ist. Er beherrscht ihn, weil er sich seine natürliche Eigenschaft zunutze macht. Bleibt die Frage, ob ein solcher Gebrauch der natürlichen Eigenschaften rechtens, d. h. natürlich ist.

Was aber wäre nun der natürliche Gebrauch unserer natürlichen Eigenschaften? Er müßte den natürlichen Bestrebungen unserer Persönlichkeit dienen. Jemanden beherrschen, wäre das ein natürliches Bestreben unserer Persönlichkeit? Es könnte sein: es gibt eine Situation, wo dieser Fall eintreten könnte: dann nämlich, wenn dieser Jemand mein Feind ist. Für einen Anarchisten ist selbstverständlich der ein Feind, der die gesellschaftlichen Fiktionen und deren Tyrannei vertritt, und sonst niemand, weil alle anderen Menschen wie er sind, nämlich natürliche Genossen. Sie sehen selbst, daß die Art von Tyrannei, die in unseren Reihen entstanden war, anderer Art war; sie richtete sich gegen unseresgleichen, gegen Genossen von Natur aus und obendrein gegen Menschen, die in einem doppelten Sinn unsere Genossen waren, insofern sie dasselbe Ideal teilten. Daraus ziehe ich den Schluß: wenn unsere Tyrannei nicht das Ergebnis von gesellschaftlichen Fiktionen war, so war sie ebensowenig das Ergebnis natürlicher Eigenschaften; sie war das Ergebnis einer verirrten Anwendung, einer Pervertierung der natürlichen Eigenschaften. Nur, wie konnte es zu dieser Pervertierung kommen?

Sie mußte von einem der zwei folgenden Sachverhalte herrühren: entweder daher, daß der Mensch von Natur aus schlecht ist, dann wären auch alle natürlichen Eigenschaften von Natur aus pervertiert, oder von einer Pervertierung, die das Ergebnis andauernden Verweilens der Menschheit in einer Welt gesellschaftlicher Fiktionen ist, Fiktionen, die alle nur zur Tyrannei führen konnten und so tendenziell und unwillkürlich den allernatürlichsten Gebrauch der allernatürliebsten Eigenschaften tyrannisch werden ließen.    - Fernando Pessoa, Ein anarchistischer Bankier. Berlin 1986 (zuerst 1922)

 

Natur Echtheit

 

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