ationalökonom   Als Zeuge steht da Herr Dr. Stehl, der sie eines Abends auf der Straße ansprach, sie zu sich nahm, für die nächsten drei Monate bei sich behielt - bis . . .  

Herrn Dr. Stehl, einem jungen, strebsamen Volkswirt, Bücherrevisor und Syndikus, hätte die Sache sicher nicht so viel Spaß gemacht, wenn sie ihm gesagt hätte, sie sei die Tochter feines Schuhmachers. So gab er sich gern der Illusion hin, eine Dame der Gesellschaft und eine Fabrikbesitzerin zum Verhältnis zu haben; und je länger die Sache dauerte, desto mehr festigte sich in ihm der Plan, sie zu heiraten. Er ließ sogar Verlobungskarten drucken. Die Verbindung sollte im Anschluß an einen Familientag, den die Freundin in Hannover mitmachen wollte, öffentlich werden. Leider haperte es mit der Garderobe der reichen Frau ein bißchen, also »puppte« er sie neu fein - dann fuhr sie voraus und nahm des Doktors Reisenecessaire gleich mit. Aber vergebens wartete der Doktor auf die Nachricht aus Hannover, sich dem Familientag vorstellen zu dürfen - am Ende erfuhr er, daß die Dame seiner Wahl mit einem korpulenten Herrn auf und davon sei. Nun fühlt er sich um 500 Mark, ein Reisenecessaire und einen Pyjama geschädigt.

Herr Dr. Stehl fühlt sich nicht wohl als Zeuge. Er entschuldigt sich: »Ich muß als Junggeselle die Möglichkeit haben, Damen kennenzulernen — wenn es sein muß, so auf der Straße.« Der Richter meint: »Sie haben doch die Gunst der Angeklagten genossen - Sie wissen doch, daß man dafür Opfer bringt.« Das eben will dem Dr. Stehl nicht in den volkswirtschaftlichen Kopf. Denn daß sie so rasch die Seine wurde, das hat er längst vergessen, auch die reizende Reise im Segelboot ist seinem Gedächtnis halb entschwunden. Je länger er sie liebte, desto mehr dachte er an ihre Lederfabriken und die Autos - er ist schon gar nicht so unwirtschaftlich, der Volkswirt.  - Sling, Der Fassadenkletterer vom "Kaiserhof". Berliner Kriminalfälle aus den Zwanziger Jahren. Hg. Ruth Greuner. Berlin 1990