Mit aller Vorsicht ließen sich - aus der Perspektive einer
relationalen Psychoanalyse - die gewaltschwangeren Konflikte, die den
Globalisierungsprozess begleiten, als unbewältigte Näheprobleme eines
Kosmos begreifen, der auch mental zusammenwächst. Mit der Nötigung zur
wechselseitigen Anerkennung bringt die globalisierte Intimität, so
meine These, auch jene tödliche Kraft der Negation hervor, die
Differenz auslöschen muss, um Unterschiedslosigkeit herzustellen. Der
erbitterte "Kampf der Kulturen", wie er zwischen Gewinnern und
Verlieren im Weltmaßstab, aber eben auch in den "Bürgerkriegen" im
Inneren der Gesellschaften stattfindet, wäre Symptom dafür, dass das
global immer enger geknüpfte Interaktionsnetz mit seinen
Kommunikations- und Flexibilitätsanforderungen eine Belastungsgrenze
erreicht hat, an der sich die Gescheiterten sammeln. - Martin Altmeyer,
Psychoanal
ytiker
(
taz vom 25.11.2006
)
- St. J. Lec,
nach:
Alexander Kluge, Die Patriotin. Texte/Bilder 1-6. Frankfurt am Main 1979
Nähe
(3) Tiere, auch fremde Tiere, stehen ihrer völligen
Unschuld wegen dem Menschen näher als der Mitmensch.
-
Wieland Herzfelde, Immergrün. Merkwürdige Erlebnisse und Erfahrungen eines fröhlichen
Waisenknaben. Berlin 1949
Nähe (4) Die Menschen in der näheren Gemeinschaft wären in einer Weise nicht weniger der Feind als die in der Ferne. In der engeren Gruppe werden alle Mitmenschen ohne Unterlaß bewacht und mit den Augen verfolgt. Man hat Verdacht auf jeden. Fernere Nachbarn sind diejenigen, die man nicht fortgesetzt beobachten kann. Schon weil sie nicht täglich gesehen werden, fängt man an zu glauben, daß sie anders sind. Man hat zu jeder Zeit für die Nachbarn eine Geschichte bereit, in der alle nur denkbaren Schlechtigkeiten der Vergangenheit zu einer Kette zusammengefügt sind.
Jeder einzelne Mensch als multiples Tier traut
sich genausowenig. Er weiß, daß er selbst ungefähr zu allem fähig wäre. Die
Interpretationen jedes anderen gehen völlig von dem aus, was er selbst tun könnte.
Weil seine eigene kleine Gemeinschaft, mit der einige Einschränkungen eingehalten
werden, ihn selbst hindert, einige seiner extremeren Charaktere zu entwickeln,
erdichtet er »den anderen« mit all diesen unterdrückten
oder zurückgehaltenen Charakteren, die immer er selbst sind. -
Ernst Fuhrmann, Die Angst als soziales Problem. Nach (
fuhr
)
Nähe
(5) Es herrschte Dunkelheit
vom ersten Zeitalter zum zehnten, bis hin zum hundertsten und tausendsten Zeitalter,
und die Erde und der Himmel lagen eng umschlungen, und zwischen ihnen lagen
ihre Kinder, die das Licht nie gesehen hatten. Nach langer, langer Zeit wurden
die Kinder von Himmel und Erde jedoch unzufrieden mit ihrem Dasein und begannen,
sich untereinander zu beraten. »Laßt uns darüber nachdenken, was wir mit Rangi
und Papa tun sollen!« sprachen sie. »Wäre es wohl besser, die Eltern zu töten,
oder sollen wir sie bloß auseinanderzwingen?« Tu-matauenga, der wildeste unter
den Kindern und Gott des Krieges, schlug vor, die Eltern zu töten. Tane-mahuta
aber, der Gott der Wälder und aller Geschöpfe des Waldes, sprach als nächster:
»Ich bin anderer Meinung. Es ist besser, sie voneinander zu trennen! Der Himmel
soll weit über uns sein, und die Erde unter uns. Der Himmel
kann uns fremd werden - die Erde aber soll uns nahe bleiben und unsere Mutter
sein, die uns hegt und pflegt!« - Märchen aus Neuseeland. Überlieferungen
der Maori. Hg. und Übs. Erika Jakubassa. Köln 1985 (Diederichs, Die Märchen der Weltliteratur)
Nähe (6)
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