Nachtschmetterling  Draußen lag das Mondlicht sanft über dem Garten. In geometrischer Anordnung umgaben Hecken einen entfernten Springbrunnen, und Blumen schliefen friedlich in ihren gepflegten Beeten. Ein großer Nachtschmetterling, den das Spiegelbild des Mondes im Teich angezogen hatte, flatterte um die Wassersäule des Springbrunnens. Der Garten lag ruhig und still im Glanz des Mondes, bis sich plötzlich das unheimliche Winseln wiederholte. Diesmal war es lauter, und Crane sah in seiner Richtung ein dunkles Objekt hinter einer Hecke herumkriechen. Es bewegte sich auf den Teich zu.

Eine Sekunde später war es im Licht, und Crane sah, daß es sich um einen Mann handelte, der auf allen vieren lief, in einem wolfsartigen Trott, der gerade durch seine Natürlichkeit besonders abnorm wirkte. Am Teichrand warf der Mann einen schnellen Blick über die Schulter zurück und begann dann zu trinken. Das rhythmische Geräusch seiner Zunge drang bis zum Fenster. WilliamCrane sah in größter Überraschung zu, wie der Mann wieder einen schnellen, prüfenden Blick in die Runde warf, als er fertig getrunken hatte. Plötzlich versteifte er sich und preßte sich dann flach auf den Boden. Dann sprang er mit einem geschmeidigen Abstoßen seiner Beine hoch in die Luft und schnappte mit einem metallischen Klicken seiner Zähne nach dem cremefarbigen Schmetterling.

»Er frißt ihn!« Miss Clayton stand neben Crane. Auf ihrem bleichen Gesicht lag der nackte Horror. »Warum hindern sie ihn nicht daran?«

Crane sah sie als erster. Er zeigte Miss Clayton die geduckten Schatten. Zwei Männer krochen aus der Richtung des Fensters auf den Teich zu, zwei andere erschienen hinter einem kleinen Gebüsch. Als sie ihm nahe genug gekommen waren, sah der Mann sie und knurrte mit gefletschten Zähnen. Einer versuchte, ihn am Genick zu packen, man hörte ein Schnappen, und er zog sich mit einem Schmerzensschrei zurück. Im selben Moment kam der Wolf smann auf allen vieren auf das Fenster zugestürmt und auf die Männer, die darunter im Schatten lagen. An der Linie, wo das aus dem Fenster fallende Licht ins Dunkel überging, warfen sich die beiden auf ihn.

Unheimliches Knurren und Jaulen erzeugte ein Durcheinander von merkwürdigen Echos im Garten, deren Multiplikation wie die Stimmen eines ganzen Wolfsrudels klang. Einmal kam die Kreatur in dem Gerangel beinahe frei, wobei ihr Kopf wenige Zentimeter vor dem Fenster in die Höhe schoß. Tierisches Gebrüll brach von den schaumbedeckten Lippen, die wahnsinnigen Augen zeigten fast nur das Weiße, auf den Wangen waren Schweiß, Blut und Dreck verschmiert, und das ganze Gesicht wirkte so unmenschlich, daß Crane in den Raum zurücksprang und einen Stuhl hob, um sein Leben zu verteidigen.

Aber im nächsten Moment erstarb der unwirkliche Lärm, und statt dessen hörte man ein trauriges Heulen, traurig und einsam und tragisch.  - Jonathan Latimer, Mord bei Vollmond. Zürich 1991 (zuerst 1935)

 

Nacht Schmetterling

 

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