Nachtarbeiter  Da Lukas manchmal nicht schlafen kann, beantwortet er, anstatt Schäfchen zu zählen, in Gedanken die unerledigte Post, denn sein schlechtes Gewissen leidet geradeso an Schlaflosigkeit wie er. Die Höflichkeitsschreiben, die leidenschaftlichen und die intellektuellen Briefe beantwortet er bei geschlossenen Augen mit großem stilistischen Einfallsreichtum und prächtigem Schwung und hat an deren Spontaneität und Wirkung seine helle Freude, was die Schlaflosigkeit natürlich potenziert. Wenn er endlich einschläft, hat er alle Briefschulden abgetragen.

Am Morgen ist er natürlich ganz zerschlagen, und da muß er sich auch noch hinsetzen und all die in der Nacht ersonnenen Briefe schreiben, die ihm viel schlechter geraten, kühl oder tölpisch oder schlicht idiotisch, was zur Folge hat, daß er diese Nacht auch nicht wird schlafen können, aus reiner Übermüdung, abgesehen davon, daß inzwischen neue Höflichkeitsschreiben, leidenschaftliche und intellektuelle Briefe gekommen sind, die Lukas, anstatt Schäfchen zu zählen, so meisterhaft und elegant beantwortet, daß Madame de Sevigné ihn weidlich gehaßt hätte.   - Julio Cortázar, Ende der Etappe. Die Erzählungen Bd. 4. Frankfurt am Main 1998

Nachtarbeiter (2)  Zur Zeit ist es die Nacht, in der ich arbeite. Von Mitternacht bis fünf Uhr morgens. Im vergangenen Monat ging mein Zimmer, Rue Monsieur-le-Prince, auf einen Garten des Lyceums Saint-Louis hinaus. Gewaltige Bäume standen unter meinem engen Fenster. Um drei Uhr morgens wird die Kerze blaß: alle Vögel schreien zur gleichen Zeit in den Bäumen auf: dann ist es zu Ende. Aus mit der Arbeit. Ergriffen von dieser unsäglichen ersten Morgenstunde, mußte ich die Bäume, den Himmel anschauen. Ich sah die Schlafräume des Lyceums, vollkommen stumm. Und schon, auf den Boulevards, der stoßende, hallende, köstliche Lärm der Marktkarren. - Ich rauchte meine Hammerpfeife und spuckte auf die Dachpfannen, denn mein Zimmer war eine Mansarde. Um fünf Uhr stieg ich hinunter, um etwas Brot zu kaufen; das ist die Zeit dazu. Überall sind die Arbeiter unterwegs. Für mich ist es die Stunde, sich bei den Weinhändlern zu betrinken. Ich ging nach Hause zum Essen und legte mich um sieben Uhr morgens hin, wenn die Sonnenwärme die Mauerasseln unter den Pfannen herauskommen ließ. Der früheste Morgen im Sommer und die Dezemberabende, das ist es, was mich hier immer entzückt hat.   - Rimbaud an Ernest Delahaye, in: Arthur Rimbaud, Briefe Dokumente. Hg. Curd Ochwadt. Reinbek b. Hamburg 1964 (Rowohlt Klassiker 155/156)

Nachtarbeiter (3)   Also nicht mehr abends schreiben, mir das Schreiben in der Nacht überlassen, mir diese kleine Möglichkeit des Stolzes auf die Nachtarbeit überlassen, es ist der einzige, den ich Dir gegenüber habe, sonst würde ich doch gar zu untertänig und das würde gewiß auch Dir nicht gefallen. Aber warte einen Augenblick, zum Beweise dessen, daß die Nachtarbeit überall, auch in China den Männern gehört, werde ich aus dem Bücherkasten (er ist im Nebenzimmer) ein Buch holen und ein kleines chinesisches Gedicht für Dich abschreiben. Also hier ist es (was für einen Lärm mein Vater mit dem Neffen macht!): Es stammt von dem Dichter Jan-Tsen-Tsai (1716-97) über den ich die Anmerkung finde: »Sehr talentvoll und frühreif, machte eine glänzende Karriere im Staatsdienst. Er war ungemcin vielseitig als Mensch und Künstler«. Außerdem ist zum Verständnis des Gedichtes die Bemerkung nötig, daß die wohlhabenden Chinesen vor dem Schlafengehen ihr Lager mit aromatischen Essenzen parfümieren. Im übrigen ist das Gedicht vielleicht ganz wenig unpassend, aber es ersetzt den Anstand reichlich durch Schönheit. Hier ist es also endlich:

In tiefer Nacht

In der kalten Nacht habe ich über meinem
Buch die Stunde des Zubettgehens vergessen.
Die Parfüms meiner goldgestickten Bettdecke
sind schon verflogen, der Kamin brennt nicht mehr.
Meine schöne Freundin, die mit Mühe bis dahin
ihren Zorn beherrschte, reißt mir die Lampe weg
Und fragt mich: Weißt Du, wie spät es ist?

Nun ? Das ist ein Gedicht, das man auskosten muß.  - Franz Kafka am 24. November 1912 an Felice Bauer , nach: F. K., Briefe an Felice. Frankfurt am Main 1976

Nachtarbeiter (4)  Unterschätze, Liebste, nicht die Standhaftigkeit jener chinesischen Frau! Bis zum frühen Morgen - ich weiß gerade nicht, ob die Stunde angegeben wird - wachte sie in ihrem Bett, der Schein der Studierlampc ließ sie nicht schlafen, sie verhielt sich aber ruhig, versuchte vielleicht durch Blicke den Gelehrten vom Buche abzuziehn, aber dieser traurige, ihr doch so ergebene Mann merkte es nicht, nur Gott weiß es, aus wieviel traurigen Gründen er es nicht merkte, über die er eben keine Herrschaft hatte, die aber alle insgesamt im höhern Sinn ihr, wieder nur ihr ergeben waren. Schließlich aber konnte sie sich nicht halten und nahm ihm doch die Lampe weg, was ja schließlich ganz richtig, seiner Gesundheit zuträglich, dem Studium hoffentlich nicht schädlich, der Liebe nützlich war, was ein schönes Gedicht hervorrief und doch alles in allem nur eine Selbsttäuschung der Frau gewesen ist.  - Franz Kafka am 19. Januar 1913 an Felice Bauer , nach: F. K., Briefe an Felice. Frankfurt am Main 1976
 
 

Nacht Schicht

 

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