Nacht, kimmerische    Als erstes werden wir oft gefragt: welche Form besagte Nacht habe, ob die Bezeichnung Form bei besagter Nacht überhaupt berechtigt sei, und ob diese Form, vorausgesetzt, es gebe irgendeine, beständig und unbeweglich und schließlich, ob sie meßbar sei. Nach dem Eindruck derer, die sich damit befaßt haben, hat besagte Nacht die Form eines Quaders; sie wurde als Struktur vollkommen identischer, fugenlos aufeinander gestapelter Würfel beschrieben; sie hätte also die Form eines festen Körpers mit einer Basis und vier Seiten, das Ganze gen Himmel gerichtet. Gewissenhafte Forscher haben die Basis nach den Strecken gezeichnet, die sie selbst zurückgelegt haben; sie sind sich aber, um die Wahrheit zu sagen, nicht ganz sicher, ob sie wirklich ein perfektes Quadrat nachgezeichnet haben, und sie argwöhnen, ihr Weg sei nicht so rigoros gewesen oder vielleicht rigoros im Sinn einer anderen Ordnung. Man darf nicht vergessen, daß die Nacht zu einem durchaus nicht kleinen Teil in einer stürmischen rauhen Meeresgegend liegt, die schon ihrer Natur nach zu grauem Wetter neigt und wo die Sicht ungewiß ist. Außerdem sagen die Forscher, es sei keineswegs sicher, daß die Nacht auch in den Meerestiefen ihre quadratische Form beibehalte. Sie haben zwar beobachtet, daß die sturmgepeitschten Wasser mit raschen Wellen in die Nacht hineinfluten, sie waren aber nicht sicher, irgendein Rückfluten gesehen zu haben.

Nehmen wir also an, die Nacht hat als Basis eine quadratische Form; und wir sind irgendwie in der Lage, die Form dieses Basis-Würfels zu beschreiben. Wir fühlen uns verpflichtet anzumerken, daß durch die Lage der Basis an teils gefahrvollen Orten, teils im Meer, teils in Sumpfgebieten und in Wäldern eine eindeutige Abgrenzung der nächtlichen Region praktisch unmöglich ist; dazu kommt noch der Verdacht, daß diese Nacht nicht vollkommen unbeweglich ist, obwohl man nicht sagen kann, wie oder wo irgendeine beliebige Verschiebung vor sich geht, noch ob es sich wirklich um eine Verschiebung handeln kann. Aber was wirklich unlösbar erscheint, sind das Ausmaß und auch die Form, die dieses Dunkel nach oben und nach unten annimmt.

Wir wissen nicht, ob die Nacht fähig ist, in den Erdboden einzudringen, ihn auszuhöhlen und die Orte im Erdinneren in Besitz zu nehmen. Es ist möglich, daß dies geschieht.  Aber wir wissen nicht, was an einem von Natur aus vollkommen dunklen Ort geschieht, in den die substantielle Nacht eindringt. Ist es möglich, daß sich Nacht auf Nacht zusammenfügt? Oder bleiben die beiden Nächte, da nach Natur und Eigenart verschieden, einzeln erkennbar, wenn auch ineinander verzahnt oder sogar vollkommen zusammenfallend? Außerdem: Weder das natürliche Dunkel der unterirdischen Welten noch die substantielle Nacht nehmen Raum ein und sind ein Ort, wo es keinen Raum gibt. Das Innere eines unterirdischen Felsens ist kompakt, doch müssen wir zugeben, es kann sowohl das Dunkel in sich bergen, das ihm naturgemäß zukommt, wie auch diese Finsternis, die auf irgendeine Weise natürlich ist, wenn auch dem fremd, was wir unter Natur verstehen. Wir wissen nicht, ob dieses Dunkel und die Nacht einander vertragen oder Feinde sind, oder ob sie weder von sich selbst noch vom anderen eine Ahnung haben. Man hat nie überprüft, ob der nächtliche Quader auf der anderen Seite der Erde wieder zum Vorschein kommt, und das erscheint verwunderlich, da es gewiß nicht an technischen Hilfsmitteln fehlt, um die Antipoden von der anderen Seite her zu erforschen. Selbstverständlich wissen wir nicht, ob die übereinander gestapelten Würfel der Nacht in den Himmel hineinragen und wie weit. Mag sein, daß die finstere Säule absolut grenzenlos in den Himmel vorstößt, und daß es nur uns wegen unserer unangemessenen technischen Mittel nicht gegeben ist, sie zu erkennen; wenn man aber sicher wäre oder auch nur den Verdacht hätte, daß diese Nacht bis zur Mitte des Universums vorstößt wie eine feine und in ihrer Finsternis zusammenhängende Klinge in der unendlichen Glorie ihrer lückenhaften Lichter, dann allerdings würde sich das Bild der Welt, in der wir zu existieren glauben, auf eine eigenartige Weise wandeln; dazu bedenke man noch folgende Bemerkung, die begründet zu sein scheint: Die einzelnen Segmente der substantiellen Nacht sind von Wesen bewohnt, über die wir nichts wissen; sie hausen dort dergestalt im Einklang mit besagter Nacht, daß sie diese als Bleibe oder vielleicht als Wohnstätte, Nest, Wald, Höhle, Schlupfwinkel oder Labyrinth verwenden können. Manche von ihnen können sich von einer Ebene auf eine andere bewegen, aber nicht beliebig weit; was zu der Ansicht führen könnte, die Ebenen würden sich auf irgendeine Weise unterscheiden, aber dies erscheint nicht glaubhaft: und vielleicht halten sich diese Wesen an ein juristisches Verbot oder an Gewohnheiten und Traditionen.

Man fragt, ob aus der Nacht in keinem Fall Tiere herauskommen, die dann unsere Welt erreichen und sie womöglich mit ihrer Nacht anstecken; aber dafür haben wir kein eindeutiges Indiz, und vielleicht ist eine solche Grenzüberschreitung vollkommen unmöglich und darf von keiner Form versucht werden, die im kraftlosen, aber fruchtbaren Licht unserer Sonne nicht heil und fest bliebe.

Wir wissen nicht, ob die Nacht ganz stillsteht oder sich von der Stelle bewegt oder dahin tendiert, sich langsam auszuweiten; und ob hin und wieder ein Stein, ein Baum oder ein Tier nicht endgültig in ihr Reich aufgenommen wird. So, wie wir annehmen können, daß die Klinge, die in den Himmel eingetaucht ist, nicht wirklich unendlich ist, sondern potentiell: eine Nacht, die ununterbrochen und unbehindert fortschreitet, immer siegreich und immer unangemessen. - Giorgio Manganelli, Kometinnen und andere Abschweifungen. Berlin 1997

nacht Land, kimmerisches

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Unterbegriffe

VB
Kimmerier

 

Synonyme
Nacht, substantielle