achruf
Der Dichter war in der verflossenen
Nacht Ohrenzeuge seines aus dem Traumradio
kommenden Nachrufs geworden. »Er wurde verlesen von einer Frau,
einer sonst, wegen ihrer bei jedem Anlaß gleich herzlichen Stimme,
weithin beliebten Rundfunksprecherin. In meinem Fall aber klang
sie nicht nur gleichgültig, sondern
schadenfroh und sogar rachsüchtig. Es war, als sei mit mir ein
vielgehaßter Missetäter verschwunden, ein Feind der Menschheit
zur Strecke gebracht. Was ich meinen Lebtag lang aufgeschrieben
hatte, tat sie, und offenbar im Namen aller, und unwiderruflich,
ab als Nichtigkeiten. Nichtigkeiten! — und gerade dieses Wort
ist es dann gewesen, das mir die Dinge wieder ins Lot rückte.
Zu Recht vergessen! sagte sie, und auf einmal sah ich mich ganz
und gar nicht mehr allein, oder jedenfalls spürbar weniger verlassen
als in den Träumen und Tagen zuvor. Eine Kette von Mißerfolgen
und Niederlagen! sagte die Radiodame, und ich sah mich im Schlaf
grinsen, von einem Ohr zum andern. Wartet nur, dachte ich, ich
habe mein Buch noch gar nicht geschrieben. Und das wird ein Buch
sein, wie es noch nie eines gegeben hat, als Buch nicht spürbar,
nicht sich ins Bild schiebend, nicht dingfest zu machen, gewichtslos,
und doch ein Buch — wenn je eines. Der
Dornbusch dazu brennt schon. Oder es wird überhaupt spielen jenseits
all der Dornbüsche, Himmelsleitern und Höllenfahrten.« -
Peter Handke, In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen
Haus. Frankfurt am Main 1999 (st 2946, zuerst 1997)
Nachruf (2)
FÜRST KRAFT Fürst Kraft ist - liest man - gestorben. So starb er in den Sielen. Und niemals müde zu reisen! So schuf er für das Ganze |
- (
benn
)
Nachruf (3) Die FAZ
erinnert daran, wie Monica Vitti und Alain Delon am Ende von Michelangelo
Antonionis Film "L'Eclisse" zum Rendez-Vous
nicht erscheinen - und damit das Weltkino revolutionieren. Das Titel-Magazin
wirft mit Antonioni einen Blick auf unsere transzendenzlose Obdachlosigkeit.
Die taz sprengt mit Antonioni die Warenform. Die Welt ruft uns nach dem doppelten
Tod Bergmans und Antonionis zu: "Trauer ist angebracht,
jedoch keine Verzweiflung." - "
Perlentaucher
"-Newsletter
am 1. August 2007
Nachruf (4)
Nachruf (5) Heute
hält ein Geistlicher eine Rede, in der er, so gut er kann, Einzelheiten aus
dem Leben des Toten zu einem ungefähren Ganzen zu vereinen sucht. Früher konnte
es vorkommen, daß ein Ältester des Stammes diese Totenrede hielt, vielleicht
auch übertrieb er die Taten des Toten. Aber es war wohl eine Ausnahme, daß Heldenreden
gehalten wurden. Im Leben der einzelnen gab es damals wie heute von einem Leben
nichts Wesentliches zu sagen. Es bleibt nichts. -
Ernst Fuhrmann, Der Sinn des Todes. Nach (
fuhr
)
Nachruf (6) Nach
Bretons Tod, der mir sehr nahe ging,
schrieb ich folgendes: „Er ist tot, der große Ameisenbär,
der große schwarze Stern, die Sonnenblume, der Himmelsstürmer, der große
Lichtträger, die große Fackel; leuchtend wie eine verirrte Haarsträhne
einer verliebten Frau, die große Fackel dieser Jahrhundertwende mit ihren
Gewitterstürmen des Denkens. Er ist in Fantomas'
Spital, Lariboisière, gestorben, wo Philippe Daudet am Samstag, dem 24.
November 1923, gegen halb fünf Uhr nachmittags, sterbend in einem Taxi
aufgefunden, eingeliefert worden war ... Man kann noch lange behaupten,
die Revolution sei nicht das Werk des einzelnen, ohne bestimmte Menschen
aber gibt es keine Revolution. Schlaft in Frieden, liebe Leute, feiert
die 70 Jahre von Elsa, hört dem monotonen Aragon zu, schaut fern, die große
Sonnenblume liegt in ihrem Sarg. Von nun an ist alles erlaubt." -
Léo Malet, Stoff für viele Leben. Autobiographie. Hamburg 1990 (Edition
Nautilus)
Nachruf (7) Bei orthodoxen
Beerdigungen gehen Männer mit Sammelbüchsen in
der Trauergemeinde herum, rasseln mit ihren Büchsen und singen: Zedaka tatsel
mimowes, hebräisch für »Wohltätigkeit schützt
vor dem Tod«. Wobei man sich natürlich fragt, ob das nicht (unbewusst) ein schlechtes
Licht auf den Verstorbenen wirft.
- (
ji
)
Nachruf (8) Haben
Sie schon einmal eine Leiche geohrfeigt?
— In Frankreich löst sich, wie man so sagt, auch das Widerwärtigste noch am
Ende in Wohlgefallen auf. Da könnte doch auch der in Rauch aufgehen, der endlich
zur größten Freude aller Hinterbliebenen krepiert ist! Nur wenig bleibt von
einem Menschen übrig, doch bei diesem-da ärgert man sich schon, wenn man bloß
daran denkt, daß er überhaupt gelebt hat. Oft schon hätte ich gewünscht, einen
Gummi zu haben, mit dem man die ganze Schmierigkeit der Menschen wegradieren
könnte. Louis Aragon 1924, nach: Maurice Nadeau, Geschichte des
Surrealismus, Reinbek bei Hamburg 1986 (zuerst 1945, re 437)
Nachruf (9) Vorläufiger Nachruf. Über den Tod eines Menschen sich freuen, das schließt dich auf eine bisher noch nicht empfundene Weise aus der Gemeinschaft der Menschen aus. Sich über den Tod eines Menschen, der dir nichts als Ungutes getan hat, nicht zu freuen, macht dich vor dir selber zu einem Geknebelten, zu einem Heuchler, zu einem ein für allemal Betäubten. Hans Lach in Der Wunsch, Verbrecher zu sein: Eine Figur, deren Tod man für vollkommen gerechtfertigt hält, das wäre Realismus. Der Satz ist richtig, kann ich sagen, als Satz in der Kunst-weit. In Wirklichkeit, unanwendbar. Oder bin ich feige, Hans Lach aber ist kühn? Trotzdem, ich wage nicht zu sagen, daß ich mich freue über den Tod des Mannes, dessen Namen ich nicht nennen will. Ich wage nicht zu sagen: Ich freue mich. Ich freue mich ja auch nicht. Bin ich vielleicht froh? Ich werde keine Grammatik finden, die es mir ermöglicht, auf diese Nachricht mit Genugtuung zu reagieren. Ich gehe so weit, wie ich überhaupt kann, wenn ich sage: Ich finde, ich sei feige, wenn ich nicht sage, daß mich dieser Tod nicht traurig macht. Das Gemeine ist, daß dieser Tod unsereinen zwingt, sich zu verhalten. Die gewöhnliche Trauer, das übliche Bedauern, das schnelle "Zurück zur Tagesordnung, dieser Tod, der Tod dieser Figur, läßt das nicht zu. Es ist, als ob dieser jetzt Tote uns zwingen wolle, zu seinem Tod ja zu sagen oder Nein zu sagen. Der Entwe-derodermann! Und ich war immer ein Gegner seines Ja oder Nein. Immer! Von Natur aus. Aus Erfahrung und aus Bedürfnis. Und behalte dies bei. Das spüre ich. Auch jetzt im Todesfall lasse ich mich nicht von Herrn E-K zwingen, mich auf ein Ja oder Nein einengen zu lassen, sondern ich juble geradezu hinaus, daß ich zu seinem Tod ganz genau so laut Ja rufe wie Nein. Genauso laut Nein wie Ja! Ich singe mein Sowohlals-auch.
Der Tod ist zwar die schroffste Erscheinungsart des Entweder-oder, aber durch
das Sowohlalsauch wird er erst zu einem Erträglichen, erträglich für Menschen.
Ich bin so frei und verbessere Hans Lachs: Eine Figur, deren Tod man für vollkommen
gerechtfertigt hält, das wäre Realismus, wie folgt: Eine Figur, deren Tod man
sowohl für vollkommen gerechtfertigt wie auch für überhaupt nicht gerechtfertigt
hält, das wäre Realismus. Und warum Ehrl-König es uns so schwer gemacht hat,
uns zu ihm sozusagen moralisch zu verhalten, kann daran liegen, daß er charakterlich
etwa den Zuschnitt einer Disney-Figur hat. Großkasper, das wäre überhaupt der
einzig richtige Name für ihn. Großkasper! - Martin Walser, Tod eines Kritikers. Frankfurt am Main 2002
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