Nachbild  Wir lernen schon in der Schule, daß uns ein Gegenstand, den wir geraume Zeit betrachteten, von neuem als eine Art Vision erscheint, wenn wir die Augen abwenden. Wir sehen ihn an der Wand, auf die wir blicken, oder im Inneren des Auges, wenn wir die Lider zumachen. Oft zeichnet er sich mit großer Schärfe ab und zeigt auch Einzelheiten, die wir bewußt nicht wahrnahmen. Nur in der Farbe hat das Nachbild sich verändert, indem es auf dem Augengrunde in einem neuen Licht erscheint. So schwebte auch, als mich bei der Betrachtung eine kurze Schwäche faßte, das Ohr vor meinem Auge in zartgrünem Glänze, während die Tischplatte sich blutrot abzeichnete.

Desgleichen gibt es ein geistiges Nachbild von Gegenständen, die uns in Bann schlugen, ein intuitives Gegenbild, das jenen Teil der Wahrnehmung aufzeigt, den wir unterdrückt haben. Eine solche Unterdrückung findet bei jeder Wahrnehmung statt.  Wahrnehmen heißt aussparen.

Als ich das Ohr betrachtet hatte, war es mit dem Wunsch geschehen, daß es ein Spuk, ein Kunstwerk, ein Puppenohr sei, das niemals den Schmerz gekannt hätte. Nun aber erschien es mir im Nachbild und enthüllte dem inneren Auge, daß ich es von Anfang an und immer, seitdem ich es erblickt, als den Brennpunkt dieses Gartens erfaßt und daß sein Anblick das Wort »höre« in mir geformt hatte. Damals in Asturien hatten sie die Leichen aus den Gräbern gezerrt, um der Menschheit zu kündigen. Wir wußten, daß nur Böses bevorstehen konnte nach solchem Empfang - daß wir in die Pforten der Unterwelt eintraten.  - Ernst Jünger, Gläserne Bienen, nach: E. J., Ausgewählte Erzählungen. Stuttgart 1985 (zuerst 1957)

 

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