Nachbarwohnung   »Wo schleppt denn dich der Teufel hin, daß du nur in Unterhosen hier rumrennst?« kreischte sie und rieb sich den Kopf. Der Mann, der nur mit Unterwäsche bekleidet war, einen Koffer in der Hand und eine Schiebermütze auf dem Kopf hatte, antwortete mit geschlossenen Augen und mit seltsamer schläfriger Stimme:

»Der Badeofen . . .die Farbe. . . Was allein das Tünchen gekostet hat . . .« Er brach in Tränen aus und kläffte: »Raus!«

Er stürzte davon, aber nicht die Treppe hinunter, sondern wieder hinauf bis zu dem Treppenabsatz mit der vom Fuß des Planungsökonomen zerstoßenen Scheibe, und durch dieses Fenster flog er, die Beine voran, hinaus. Annuschka vergaß ihren Hinterkopf, stieß einen Schrei aus und sauste ebenfalls zum Fenster. Sie legte sich bäuchlings auf den Treppenabsatz und steckte den Kopf hinaus, in der Erwartung, auf dem Asphalt, von der Hoflaterne beleuchtet, den zerschmetterten Mann mit dem Koffer zu sehen. Aber nichts dergleichen.

Ihr blieb nur übrig, anzunehmen, daß das sonderbare schläfrige Individuum wie ein Vogel davongeflogen und spurlos verschwunden sei. Sie bekreuzigte sich und dachte: Wirklich eine feine Wohnung, die Nummer fünfzig! Nicht umsonst reden die Leute . . . Ach, ist das eine Wohnung! Sie hatte das noch nicht zu Ende gedacht, als oben abermals die Tür klappte und jemand heruntergelaufen kam. Annuschka quetschte sich an die Wand und erblickte einen gutsituierten Bürger mit Kinnbart und, wie ihr schien, ferkelartigem Gesicht, der an ihr vorbeischlüpfte und das Haus auf demselben Weg verließ wie der erste, ohne auf dem Asphalt zu zerschmettern. Jetzt vergaß Annuschka sogar schon den Zweck ihres Ausgangs und blieb auf der Treppe stehen, sich bekreuzigend, ächzend und mit sich selbst redend.

Der dritte war ohne Bart, hatte ein rundes rasiertes Gesicht, trug eine Russenbluse und flatterte ebenfalls durchs Fenster davon.

Zu Annuschkas Ehre sei gesagt, daß sie wißbegierig war und den Entschluß faßte, weiter zu warten, ob sich nicht noch mehr Wunder ereigneten. Wieder ging oben die Tür, und diesmal kam eine ganze Gesellschaft die Treppe herunter, aber nicht im Laufschritt, sondern so, wie alle Menschen gehen. Annuschka sprang vom Fenster zurück, flitzte hinunter zu ihrer Tür, öffnete sie geschwind, versteckte sich dahinter, und im Türspalt glänzte ihr vor Neugier fast irres Auge.

Ein Mann mit schwarzem Mützchen und einer Art Kittel, der irgendwie krank aussah, vielleicht auch nicht krank, aber seltsam bleich und stoppelbärtig, kam mit unsicheren Schritten die Treppe herunter. Ein Dämchen in schwarzer Soutane - so dünkte es Annuschka im Halbdunkel — führte ihn sorgsam am Arm. Sie war entweder barfuß oder trug eine Art durchsichtige, offenbar ausländische, in Fetzen hängende Schuhe. Du liebe Güte, sie ist ja splitternackt! Die Kutte hat sie sich über den nackten Leib gehängt. Ach, ist das eine Wohnung! Annuschkas Seele sang und frohlockte im Vorgeschmack dessen, was sie morgen den Nachbarn erzählen würde.

Dem seltsam gekleideten Dämchen folgte ein splitternacktes Fräulein mit einem Koffer in der Hand, den ein riesiger schwarzer Kater tragen half.   - (meist)

 

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