Nachbarschaft (2) Ein Floh aus Polen und eine Fliege aus Preußen machten jedes eine Reise. Sie begegneten sich an der Grenze beider Lander. Da fragte der Floh: »Wohin geht's denn, Gevatterin?« »Nach Polen«, kam die Antwort, »und wohin willst du?« »Ich ziehe nach Preußen.« »Warum denn das?«
»Ach, der Masure schläft immer auf Stroh, und das pflegt er nachher ins Feuer zu werfen, so daß man bei ihm seines Lebens nicht sicher sein kann! In den preußischen Federbetten aber hoffe ich noch Enkel und Urenkel zu erleben! Und was lockt denn dich nach Polen?«
»Ach, was ist das schon für ein Leben bei diesem verfluchten Preußen? Wenn
ich ihm ins Essen hineinfalle, da fischt mich der Kerl heraus, schleckt mich
ab, saugt mich aus und wirft mich erst dann fort! Wenn ich aber einem Masuren
in die Schüssel falle, ha, ha, da schöpft er mich mit einem Löffel voll Suppe
heraus, so daß es nicht nur für mich, sondern für hundert andere meiner Schwestern
reicht!« - Polnische Volksmärchen. Hg. Ewa Bukowska-Grosse und Erwin
Koschmieder. Düsseldorf u.Köln 1982 (Diederichs, Märchen der Weltliteratur)
Nachbarschaft (3)
Nachbarschaft (4) Bashe Lady antwortete
mit einem heftigen Wortschwall, von dem Leaphorn so gut wie nichts verstand.
Er bekam jedoch mit, dass immer wieder von den «Blutigen Messern» die Rede war
- der Schimpfname der Ute für die verhassten Navajo.
Anfangs nahm er das mit Gleichmut hin. Schließlich mussten umgekehrt bei Navajo-Zeremonien
oft genug die Ute herhalten, um den Feind zu symbolisieren.
Und auch die Hopi hatten eine nicht gerade schmeichelhafte Bezeichnung für ihn
und seine Stammesbrüder. Die Navajo hießen bei ihnen «Headbreakers» - eine Anspielung
darauf, dass seine Vorväter ihre Feinde mitunter getötet hatten, indem sie Felsbrocken
auf sie hinunterfallen ließen. - Tony Hillerman, Dachsjagd. Reinbek bei
Hamburg 2001
Nachbarschaft (5) Die klassische Heimat der cangaçeiros, der sertão im Nordosten Brasiliens, war zugleich auch eine Gegend, in der die messianischen Bauernführer, die santos, zu Hause gewesen sind. Es florierten hier Banditen und Heilige, doch waren letztere noch angesehener als die cangageiros. So heißt es in einer der zahlreichen Balladen, die von den Taten des großen Banditen Lampião handeln:
Er schwor Rache und Verheerung,
Bezeugte in dieser
Welt Verehrung
Nur dem einen - Pater Cicero.
Es war der Messias von Juazeiro, Pater Cicero,
dem Lampião seine »offizielle« Beglaubigung vor der öffentlichen Meinung zu
verdanken hatte. Historisch gehören Sozialbanditentum und Chiliasmus - die primitivsten
Formen des Reformismus und der Revolution — eng zusammen. In den entscheidenden
apokalyptischen Augenblicken mag dann nach Zeiten des Leidens und Wartens, in
denen die Brigantenbanden stets größeren Zulauf erhalten, unvermerkt eine Verwandlung
stattfinden. - (
hob
)
Nachbarschaft (6) Die
Frauen hatten ihre Einkäufe erledigt, brachten das Bier nach Hause und kamen
zu ihrer Bank zurück. Mrs. Olson, die vor 2 Jahren, als ihr Mann starb, einen
Schlaganfall hatte, kam heraus und als sie vorbeihumpelte, sahen die Frauen
sie an und lachten. Sie ging ein wenig vorgebeugt und zog den rechten Fuß nach.
Sie konnte den rechten Arm nicht senken und hielt ihn abgewinkelt quer über
die Brust, die Hand war halb geschlossen und zuckte auf und nieder. Die Frauen
hatten Vergnügen daran, sie zu beobachten und fragten sich, ob sie wohl mit
ihrem rechten Fuß Kaugummi und Hundescheiße sammelte. Sie sollte Schuhe mit
Stahlspitzen tragen. Wahrscheinlich isse so geworden weil se ihrem Mann zu oft
einen runtergeholt hat. Gelächter. Vielleicht hat das ihn umgebracht. Eine der
Frauen sah zu einem Fenster im 4. Stockwerk hinauf, rief den anderen etwas zu
und deutete auf ein kleines Kind, das aus dem Fenster gekrabbelt war und auf
dem Sims kniete. Die Frauen beobachteten es, wie es auf dem Sims und auf der
Fensterbank herumkroch. Vielleicht denkt er er isn Vogel. He, du willst wohl
fliegen? Gelächter. Andere sahen hinauf und jemand schrie auf und ein anderer
brüllte: zurück! O Gott o mein Gott. Ada bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.
Die Frauen lachten weiter und fragten sich, wann es wohl herunterfallen würde.
Unter dem Fenster rannten Leute hektisch im Kreis herum; jemand rannte die Treppen
hinauf und schlug an die Tür, aber es rührte sich nichts. Sie schlugen wieder
an die Tür und lauschten auf ein Geräusch, hörten etwas, ein Murmeln, doch niemand
öffnete. Sie rannten die Treppen wieder hinunter und die Leute fragten, ob jemand
zu Hause sei. Sind Sie sicher, daß niemand da ist? Was gehört . . . vielleicht
kleine Kinder ... ich weiß nicht... was können wir denn bloß tun ... o mein
Gott... es bewegt sich ... ich kann nicht hinsehen .. . Polizei holen. . . Die
Leute rannten weiter im Kreis herum, ein paar rannten zur Straße und hielten
Ausschau nach einem Streifenwagen; jemand hatte im Revier angerufen und die
Frauen hörten auf zu lachen, nun, da so viele Menschen herumstanden, sahen jedoch
immer noch gespannt nach oben und warteten darauf, daß der kleine Körper über
den Rand des Simses glitt und fiel, in die Tiefe fiel. . . und auf den Boden
oder in eine Hecke plumpste und Ada sah bei jedem Aufschrei aus der Menge zum
Fenster hinauf und legte jedesmal sofort wieder die Hand vor die Augen und das
Baby auf dem Sims schaukelte vor und zurück und schien nun das Gleichgewicht
zu verlieren und 2 Männer rannten unter das Fenster und wollten es auffangen
und andere hoben die Arme (die Frauen hofften nach wie vor auf ihre Sensation).
- Hubert Selby, Letzte Ausfahrt
Brooklyn. Reinbek bei Hamburg. 1989 (zuerst 1957)
Nachbarschaft (7) 2.
MANN
Wie gehts Ihnen mit Ihrem Nachbarn?
2. FRAU
Er mußte den Hund, der immer so gekläfft hat, wegschaffen, der
hätt mich beinah verrückt gemacht. Ich hab mich mit 2 anderen Nachbarn zusammengetan
- allein ist man ja niemand - und wir haben ohne gerichtliche Verhandlung die
Beseitigung des Hunds bewirken können. Denn er war nach einer Mahnung von der
Polizei unfähig, dieses Hundegekläff einzustellen. Jetzt macht er mich aber
mit seiner "Waschmaschine krank. Von früh bis spät läßt er sie bei offenem
Fenster laufen, da brauch ich mich nur im Garten aufzuhalten. Ich bin vorerst
machtlos, well mein anderer Nachbar diesen Heulton nicht hört,
2. MANN
Sie müssen ihn provozieren, Sie brauchen Beweise, daß er Sie ärgern
will, mit Ehrlichkeit kommen Sie heutzutage nicht weit. - Herbert Achternbusch, L'Etat c'est moi. Frankfurt am
Main 1972
Nachbarschaft (8) Die Türe öffnet sich!
es wird gesprochen! niemand ist da! ich fühle, daß jemand da ist. Ich zünde
die Lampe an, und die Mauer belebt sich; jede Blume der Tapete hat Blut auf
den Flügeln, jedes Tier hat Blut auf seinen Blütenblättern. All das belebt und
nähert sich, alles kriecht zur Mitte des Teppichs; und die Dämmerung des Kamins
ist trichterförmig. In welchem Zustand wird mich morgen mein Diener finden!
Meine Finger, die im Schatten tasten, sind auf die Ecke des Bettes gestoßen,
des rettenden Bettes, wenn es mich nicht fortträgt, wenn es mich nicht woanders
hinträgt! Da fand man nicht mehr den, der sich niedergelegt hatte, sondern an
seiner Stelle ein schleimiges Tier. - Max Jacob, Höllenvisionen. Frankfurt
am Main 1985 (zuerst 1924)
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