Nachbardorf   Am 12. August 1943 zog eine deutsche Abteilung, der ein Panzer vorausfuhr, zwischen sieben und acht Uhr morgens (die Zeugen sind sich über den genauen Zeitpunkt nicht einig) in Castiglione di Sicilia ein. Sie kamen die Landstraße von Randazzo herauf, doch offenbar war es keine von der Front kommende Abteilung. Die Leute standen auf den Baikonen, im Pyjama, im Unterhemd, im Morgenmantel. Einige waren schon auf der Straße, um ihre Läden aufzumachen oder um die paar Dinge zu kaufen, die man in jenen Tagen kaufen konnte. Keinerlei Geste der Feindseligkeit oder Verhöhnung gegenüber der auf dem Rückzug befindlichen Abteilung. Plötzlich jedoch fächerten sich die Deutschen um den Panzer herum auf und begannen zu schießen. Noch ehe den Einwohnern von Castiglione klar war, was da geschah, waren sechzehn Personen schon tot, weitere verletzt. Die Deutschen gingen einfach in die Häuser hinein und brachten die Männer, so wie sie waren, fort. Eine Frau, deren Mann durch die Schüsse von der Straße her getötet worden war, wurde vom Balkon heruntergestoßen: Sie blieb mit einem gebrochenen Bein auf dem Pflaster liegen. Die Männer wurden außerhalb des Dorfes in einen Pferch gesperrt, wie Schafe. Dort blieben sie den ganzen Tag, während (einigen Zeugen zufolge) unter den Deutschen, Grenadieren und SS-Männern, die unterschiedlicher Auffassung waren (doch hier hat es im Gedächtnis der beteiligten Personen vermutlich korrigierende Eingriffe journalistischer Art gegeben), eine Diskussion über das Schicksal der Gefangenen begann, ob man sie hinrichten oder aber im Pferch eingesperrt lassen solle. Indessen hatte sich der Dekan als Unterhändler eingeschaltet, und die Deutschen erlaubten sogar, daß die Verwundeten ärzdich versorgt würden. Schließlich zogen sie ab, doch erst gegen Abend. Und so konnte das Dorf seine Toten beweinen.

Die Bürger von Castiglione neigen dazu, über jenes schreckliche Ereignis ein abgeklärtes Urteil abzugeben. Sie sagen, einen Grund, wie ungerecht und fürchterlich auch immer, hätten die Deutschen schon gehabt: die Cesarotaner, die Einwohner der unweit gelegenen Ortschaft Cesarò, hätten ihnen Ärger gemacht. Anscheinend war den Deutschen in der Nacht vor dem Blutbad dort, wo sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, irgendein Diebstahl oder ein kleiner bewaffneter Angriff zugestoßen, weshalb sie am Morgen dann bergan stiegen, um an dem kleinen Dorf, das mit der ganzen Sache gar nichts zu tun hatte, Rache zu nehmen. Die Cesarotaner sind im Urteil der Nachbargemeinden wunderlich, ruhelos und verwegen. Francesco Lanza schrieb über sie einige »Mimen«; rund um den Ätna erzählt man sich noch viele andere, und manche dieser Alltagsszenen beziehen sich auf jene Kriegstage in Sizilien, als sich die Cesarotaner mehr als gewöhnlich austobten. Etwa die vom Cesarotaner, der eine verlassene Kanone findet und daneben die Kiste mit den Geschossen, und weil er Artillerie so Idat gewesen war, bekommt er Lust, die Kanone zu laden und abzufeuern, einfach drauf los, jetzt oder nie; und fast hätte er einen neuen Krieg vom Zaun gebrochen, mit den Amerikanern, die beim kleinsten Alarm ganze Tage lang herumschossen.  - Leonardo Sciascia, Mein Sizilien. Berlin 1995 (Wagenbach, 53. Salto)

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