abel
In der mediterranen Welt gab es natürlich das berühmteste aller Omphaloi,
das von Delphi in Griechenland. Weiter im Westen lagen Rom und jenseits
davon die keltischen Länder, alle mit ihrem eigenen Mittelpunkt. Und selbst
im fernen China der Shang-Dynastie, im Indien der Upanishaden, selbst in
der Khmerstadt Ankor Tom und in der Mayakultur Zentralamerikas besaß jedes
Kaiser- und Königreich seinen eigenen Nabel.
Der Omphalos war gedacht als der Urpunkt, an dem die Welt erschaffen wurde und von dem sie sich ausbreitete, gewissermaßen ein Nabel im wörtlichen Sinn:
»Der Heilige schuf die Welt wie einen Embryo. So wie der Embryo vom Nabel nach außen wächst, begann Gott die Welt vom Nabel aus zu erschaffen, und von dort wurde sie in die verschiedenen Himmelsrichtungen ausgebreitet.«
Von jenem Augenblick an bildete er eine Art spirituellen Pol oder spirituelle
Achse, die die Hauptbestandteile des Kosmos miteinander
verband: Nach unten bestand, wie in Eridu, die Verbindung zur Unterwelt,
zum Reich der Toten und zu den Wassern des Chaos, die der Schöpfung vorangingen;
nach oben verband sie die Welt mit dem Himmel, weshalb man Heiligtümer
in Babylonien als Dur-an-ki bezeichnete, »Band zwischen Himmel und
Erde«. An diesem Punkt reichte die Erde am nächsten an den Himmel heran.
In frühen Zeiten galt, daß, wenn ein Pilger den Omphalos-Berg erklimmt,
»er nahe an den Mittelpunkt der Welt kommt und auf des Berges höchstem
Gipfel in eine andere Sphäre eindringt; er transzendiert den profanen,
heterogenen Raum und betritt eine ›reine Erde‹«. - Nikolai
Tolstoy, Auf der Suche nach Merlin. München 1992
(zuerst 1985)
Nabel (2) Maria nahm das Brausepulver
liegend zu sich. Da sie, sobald das Pulver aufbrauste, mit den Beinen
zu zucken und zu strampeln pflegte, rutschte ihr
das Nachthemd oftmals schon nach dem ersten Gefühl bis zu den Schenkeln
hoch. Beim zweiten Aufbrausen gelang es dem Hemd zumeist, über den Bauch
kletternd sich vor ihren Brüsten zu rollen. Spontan,
ohne die Möglichkeit vorher, Goethe oder
Rasputin lesend, in Betracht gezogen zu
haben, schüttete ich Maria, nachdem ich ihr wochenlang die linke Hand gefüllt
hatte, den Rest eines Himbeerbrausepulvertütchens in die Bauchnabelkuhle,
ließ meinen Speichel dazufließen, bevor sie protestieren konnte, und als
es in dem Krater zu kochen anfing, verlor Maria alle für einen Protest
nötigen Argumente: denn der kochend brausende Bauchnabel hatte der hohlen
Hand viel voraus. Es war zwar dasselbe Brausepulver, mein Speichel blieb
mein Speichel, auch war das Gefühl nicht anders, nur stärker, viel stärker.
So übersteigert trat das Gefühl auf, daß Maria es kaum noch aushalten konnte.
Sie beugte sich vor, wollte mit der Zunge die brausenden Himbeeren in ihrem
Bauchnabeltöpfchen abstellen, wie sie den Waldmeister in der hohlen Hand
zu töten pflegte, wenn der seine Schuldigkeit getan hatte, aber ihre Zunge
war nicht lang genug; ihr Bauchnabel war ihr entlegener als Afrika oder
Feuerland. Mir jedoch lag Marias Bauchnabel nahe, und ich vertiefte meine
Zunge in ihm, suchte Himbeeren und fand immer mehr,
verlor mich so beim Sammeln, kam in Gegenden, wo kein nach dem Sammelschein
fragender Förster sein Revier hatte, fühlte mich jeder einzelnen Himbeere
verpflichtet, hatte nur noch Himbeeren im Auge, Sinn, Herzen, Gehör, roch
nur noch Himbeeren, war so hinter Himbeeren her, daß Oskar nur nebenbei
bemerkte: Maria ist zufrieden mit deinem Sammelfleiß. Deshalb hat sie das
Licht ausgeknipst. Deshalb überläßt sie sich vertrauensvoll dem Schlaf
und erlaubt dir, weiter zu suchen; denn Maria war reich an Himbeeren. -
Günter Grass, Die Blechtrommel. Frankfurt am Main 1965 (Fischer-Tb. 47314,
zuerst 1959)
Nabel (3)
Nabel (4) Der Nabel ist dazu da, beim Ertrunkenen
das Wasser herauszulassen, aber er erfüllt seine Bestimmung nie. - Ramón
Gómez de la Serna, Der Traum ist ein Depot für verlegte Gegenstände. Greguerías.
Berlin 1989
Nabel (5) Wenn man sich intensiv über seinen Nabel
beugt, sagt Monsieur Traum, entdeckt man daß er keine Narbe
ist sondern eine klaffende Wunde. - (
rp
)
Nabel (6) Ferner ist natürlicherweise der Mittelpunkt
des Körpers der Nabel. Liegt nämlich ein Mensch mit gespreizten Armen und Beinen
auf dem Rücken, und setzt man die Zirkelspitze an der Stelle des Nabels ein
und schlägt einen Kreis, dann werden von dem Kreis die
Fingerspitzen beider Hände und die Zehenspitzen berührt. Ebenso, wie sich am
Körper ein Kreis ergibt, wird sich auch die Figur eines Quadrats an ihm finden.
Wenn man nämlich von den Fußsohlen bis zum Scheitel Maß nimmt und wendet dieses
Maß auf die ausgestreckten Hände an, so wird sich die gleiche Breite und Höhe
ergeben, wie bei Flächen, die nach dem Winkelmaß quadratisch angelegt sind.
-
Leonardo da Vinci
Nabel (7) In der zweiten Nacht krachte es im Gebüsch nahe bei ihnen, ein großes Tier mit phosphoreszierenden Augen erkannten sie in dem Dunkel, das von den Sternen und weißen Wolken aufgehellt war. Sie saßen beide aufrecht, eng aneinandergeklammert, der Kaplan hielt eine Hand über Viviens Mund. Unbeweglich saßen sie eine lange Weile, dann trat der Jaguar noch einen Schritt näher, drehte sich um und trabte langsam davon.
Ganz früh ging der Kaplan nach Wasser und Früchten. Vivien schlief auf dem
Blattlager. Eine Krabbenspinne kroch aus den Blättern hervor. Sie war groß,
schwarz und haarig; an jedem Bein, das wie eine dicke Raupe aussah, trug sie
eine gelbe Kralle, aus ihrem Kopf traten zwei kleine, zurückgebogene gelbe Hörner.
Sie kroch über den Leib Viviens und biß ihn in den Nabel. Er wachte auf und
schrie. Die Spinne lief davon. Die Bißwunde brannte. -
Alfred Döblin, Amazonas. Romantrilogie. München 1991 (entst. 1935-37)
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