Gottfried
Wilhelm Leibniz, nach (
bar
)
Musik (2) Mit scheinheiligem Ernst, angereichert durch Einzelheiten, die dem Bericht einen dokumentarischen Anstrich gaben, veröffentlichte die Berliner Zeitung Anfang der dreißiger Jahre eine sensationelle archäologische Entdeckung:
den Fund einer vollkommen unversehrt erhaltenen altägyptischen
Vase. Die eigentliche Pointe bestand nur darin, daß diese Vase,
wie der Bericht behauptete, von oben bis unten mit einer auf
der sich drehenden Töpferscheibe von der Hand des Töpfers in
den noch feuchten Ton eingeritzten Spirallinie verziert war.
Einer der an der Auffindung der Vase beteiligten Archäologen,
so hieß es weiter, sei nun auf den brillanten Einfall gekommen,
daß diese Linie eigentlich, nach dem Prinzip der klassischen
Grammophonplatte, als Wellenspur alle die Klänge und Geräusche
enthalten müsse, die bei ihrer Entstehung vor drei Jahrtausenden
die Werkstatt des Handwerkers erfüllt hatten. Diese logisch einleuchtende
Vermutung habe sich bei der anschließenden Probe aufs Exempel
glänzend und auf überwältigende Weise bestätigt. Man habe die
Vase erneut in Umdrehung versetzt, die eingeritzte Spirallinie
mit einem geeigneten Verstärker abgetastet und die von diesem
erzeugten Impulse einem Lautsprecher zugeleitet — und siehe da,
aus diesem sei, wenn auch arg gestört und mit Nebengeräuschen
durchsetzt, ein alt-ägyptisches Volkslied erklungen, das Lied,
das der Töpfer zufällig gerade gesungen haben mußte, als seine
Hand vor dreitausend Jahren diese Linie in den noch feuchten
Ton der rotierenden Vase ritzte. - Hoimar v. Ditfurth.
Kinder des Weltalls. Der Roman unserer Existenz. Hamburg 1970
Musik (3) Werter Herr und Freund! Empfangen
Sie meinen Dank für Ihre Sendung und für den Brief, den Sie Herrn
Teste geschrieben haben. Ich glaube, die Ananas und die Konfitüren
haben nicht mißfallen; ich bin sicher, daß die Zigarren Anklang
fanden. Was den Brief anlangt, so würde ich lügen, wenn ich Ihnen
darüber das mindeste sagte. Ich habe ihn meinem Manne vorgelesen,
und ich habe ihn kaum verstanden. Doch gestehe ich Ihnen, daß
ich daran ein gewisses Vergnügen hatte. Die abstrakten oder für
mich zu hohen Dinge anzuhören, langweilt mich nicht; es bezaubert
mich fast wie Musik. Es gibt einen schönen Teil der Seele, der
genießen kann, ohne zu verstehen, und der ist bei mir groß. -
Paul Valéry, Herr Teste. Frankfurt am Main 1965 (BS
162, zuerst ca. 1895)
Musik (4) Glühende Strahlen schießen
durch dieses Reiches tiefe Nacht, und wir werden Riesenschatten
gewahr, die auf- und abwogen, enger und enger uns einschließen,
und alles in uns vernichten, nur nicht den Schmerz der unendlichen
Sehnsucht, in welche jede Lust, die, schnell in jauchzenden Tönen
emporgestiegen, hinsinkt und untergeht, und nur in diesem Schmerz,
der, Liebe, Hoffnung, Freude in sich verzehrend, aber nicht zerstörend,
unsere Brust mit einem vollstimmigen Zusammenklange aller Leidenschaften
zersprengen will, leben wir fort und sind entzückte Geisterseher.
- E.T.A.
Hoffmann
über Beethovens 5. Symphonie, nach: Phaïcon 3, Almanach der phantastischen
Literatur. Frankfurt am Main 1978 (st 443)
Musik (5) Ein kleines Kapitel gegen die Musik wäre zu schreiben, gegen die primitivste und wildeste Kunst, die Kunst, die am stärksten, um nicht zu sagen: ausschließlich unsere Sinne, unseren Trieb anspricht. Am Anfang der Musik steht sicherlich der Primitive, der zwei Hölzer rhythmisch gegeneinanderschlägt und zu diesen Schlägen rhythmisch mit den Beinen zappelt. Ein Kind am Strand, das das Tosen der Wogen hört und es mit dem Mund nachzuahmen versucht: hu-u, hu-u, macht Musik. Die große Masse, die niedrigsten Schichten der Gesellschaft sind für die Musik am empfänglichsten. Welche Art Musik, ist unwichtig. Es ist Musik, das genügt. Überall sieht man es von Phonographen oder Grammophonen wimmeln. All diesen Leuten wäre es nicht in den Sinn gekommen, sich Bücher zu kaufen, sich eine Bibliothek zusammenzustellen. Sobald man Musik zu Hause haben konnte, haben sie sich darauf gestürzt und schwelgen allabendlich in diesem klangreichen Getöse. Ein Beweis dafür, daß die Musik die primitivsten Seiten unseres Wesens anspricht, ist folgendes: gelegentlich gehe ich zum Essen in eine Wirtschaft in Robinson. Ein schreckliches, durch einen Lautsprecher verstärktes Grammophon ergießt über die Speisegäste einen Schwall billiger, rhythmisierter Musik, und ich spüre, wie in mir eine seltsame Lust aufkommt, heranwächst, aufzustehen und loszuzappeln, wie der letzte Wilde einer weit entlegenen Völkerschaft es zu den Tamtamklängen seines Stammes tut. Nein, nicht seinen Intellekt, seinen Geist oder seine meditativen Fähigkeiten, nicht die vornehmen Seiten seines Wesens spricht die Musik an oder befriedigt sie, und daß sie die erste aller Künste sei, ist nur Gerede. Von ihrer niedrigsten bis zu ihrer höchsten Stufe ist sie nur ein Getöse, zu dessen Rhythmen wir unter einem rein körperlichen Antrieb bereit wären, uns in Sprüngen vorwärtszubewegen.
Ganz gleich, ob die Musik auf der Straße, die Musik aus den Kaschemmen, die
Musik aus der Oper, die Musik Wagners, Debussys oder die allerneuste Musik einen
anrührt: der Neger in uns empfindet Befriedigung dabei, und die Musik ist, sei
sie, welche auch immer, nichts als Lärm. So sehr Lärm
ist sie, daß die allerjüngste Musik aus Fabrikgeräuschen, den Geräuschen einer
Eisenbahn, einer Menschenmenge, aus den Rufen einer Versammlung besteht. Und
was ich hier von der Musik sage, ließe sich ebenso vom Tanz sagen: eine rein
körperliche Betätigung, mit rein körperlicher Genugtuung, in all seinen Erscheinungsformen.
Man kann sich nicht vorstellen, daß ein denkender Mensch sich gerne mit dem
Geräusch irgendeiner Musik umgibt, oder daß er sich dazu hinreißen läßt, wie
eine Marionette an geheimnisvollen Fäden herumzuzappeln. - (
leau
)
Musik (6) »Wahr«, sagte Wendell, »die
Engel spielen die Zimbel, und die Teufel zupfen
mit Vergnügen menschliche Gedärme, der bescheidene
Schotte schnauft den Dudelsack, und der Österreicher schlägt auf die Mandoline
ein; und ich vergnüge mich mit einem halben Dutzend Instrumente, aber nur zur
Zerstreuung und Übung, denn mein wahrer Ruhm liegt in der fröhlichen Musik,
die ich meiner sphärischen, waldsamen Pfeife mit nur
einem Loch, dem Mark des Hosenlatzes, entlockt habe.
Wie viele Töne schwirren bei seiner Orchestrierung durch ein Weib hindurch!
Ganze Noten und halbe Noten und halbe Sechzehntel, alle am Mast ihres Innern
haftend und nach neun Monaten reif, um, gebührlich in Harmonien gesetzt, davonzuschwirren,
wie ein gutes Kriegslied der frühen Heiden oder die possenhaften Tänze, welche
das Landvolk veranlassen, manch ein stattliches Bein zum Matrosentanz zu schütteln
und zu schwingen, oder«, fuhr er nach einer melancholischen Pause fort, »totgeboren
wie ein Haufen Verzierungsnoten, zu geschwind, um von der Stimme erfaßt zu werden,
und dann Schweigen und ein christliches Begräbnis.« -
(ryder)
Musik (7) Güte
auszustrahlen ist wunderbar, denn es ist stärkend, kräftigend, belebend. Aber
einfach zu sein ist noch wunderbarer, denn
es hat kein Ende und verlangt keinen Beweis. Sein ist Musik, die eine Entweihung
der Stille um der Stille willen ist, und daher jenseits von Gut und Böse. Musik
ist Tat ohne Tätigkeit. Sie ist der reine, in sich selbst ruhende Schöpfungsakt.
Musik treibt weder an noch verbietet sie, so wie sie weder sucht noch erklärt.
Musik ist das lautlose Geräusch, das der Schwimmer im Meer des Bewußtseins macht.
Sie ist ein Lohn, den man sich nur selbst geben kann. Sie ist die Gabe des Gottes,
der man ist, weil dieser Gott aufgehört hat, über Gott nachzudenken. Sie ist
ein Augur des Gottes, zu dem jeder zur rechten Zeit werden wird, wenn alles,
was ist, jenseits aller Vorstellung sein wird. - (wendek)
|
|