Musical  Das Zucken des Stroboskoplichts ließ die Bewegungen des kleinen Hans ruckartiger erscheinen als sie waren. Er lief den Flur entlang und rüttelte verzweifelt an den verschlossenen Türen. Der bucklige Gnom, der ihn verfolgte, mußte immer wieder Halt machen und den schweren Eiseneimer absetzen, den er mit sich schleppte. Trotzdem würde er Hans gleich eingeholt haben. Am Ende des Flurs angekommen, warf der sich gerade mit aller Kraft gegen die letzte Tür. Doch auch hier hatte er kein Glück. Der Gnom lachte. Er holte einen großen Schlüsselbund aus dem Eimer und öffnete damit eine der vorderen Eingänge. Ein Hund mit drei Köpfen sprang heraus und bellte in die Richtung des inzwischen auf den Boden gesunkenen Jungen. Der Gnom humpelte weiter und ließ aus dem nächsten Zimmer eine Frau in einem glänzenden Stahlkorsett frei. Wieder lachte er und schloß eine dritte Tür auf, aus der sich ein dicker Spinnenleib herausquetschte. Noch einige Schritte, dann war der Gnom bei seinem Opfer angelangt. „Steh auf!" befahl er mit heiserer Stimme. Doch Hans blieb liegen. Tränen flössen aus seinen Augen. Er warf sich hin und her und strampelte mit den Beinen. Schließlich faßte er sich, drehte seinen Kopf langsam dem Gnom entgegen und hob mit verzweifelter Stimme an: „Can't see my eyes, can't smell my nose, my thoughts are weird and comatose - can't take this anymore. Can't take this anymore."

Dr. Rubinblad wandte sich zu seiner Frau und flüsterte: „Ich halte das auch bald nicht mehr aus." Sie lächelte und legte einen Finger auf ihre Lippen. Auf der Bühne bahnte sich gerade ein weiterer Höhepunkt an. Der Schauspieler, der den jungen, pubertierenden Hans spielte, war inzwischen aufgestanden und tanzte zwischen den greulichen Ungeheuern umher, wobei er mit jedem der Monstren ein kleines Duett sang. Besonders eindrucksvoll war der Part der Spinne, in dem als Leitmotiv eine Paraphrase aus der Königin der Nacht anklang. Diese Melodie verspann sich immer dichter mit dem Hauptthema des kleinen Hans.

Frau Rubinblad fand die Vorführung durchaus unterhaltsam. Selbst die Tatsache, daß der farbige Hauptdarsteller mit einem leichten deutschen Akzent sang, war dem Stück dienlich, da es unwillkürlich Anklänge an die Heimat der Psychoanalyse hervorrief, für deren Umsetzung der Regisseur ergreifende Bilder gefunden hatte. Gerade jetzt setzte die Metamorphose der Ungeheuer ein, krümmte sich die Frau im Stahlkorsett in einer hysterischen Brücke, um im nächsten Moment geläutert und in einen Traum aus Seide gekleidet neben dem kleinen Hans nach vorn zu schreiten, wo sie der Chor der befreiten Triebe empfing. Wie in einer Szene aus Hair, das 1996 wieder vermehrt auf den Spielplänen amerikanischer Theater auftauchte, fielen sich das steife Über-Ich im blauen Zweireiher und das Es in Fransenjacke in die Arme.

Sinnigerweise hatte man im Theater von East Saint Louis das Musical The Gordian Knot als Rahmenprogramm für den Neurologenkongreß zum Thema „Fokale Störungen höherer Hirnfunktionen" ausgewählt.   - (blue)

 

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