Murmeln  Wir bewegen uns scheinbar auf einer dünnen Kruste, die jeden Augenblick durch die unterirdisch schlummernden Mächte zerrissen werden kann. Von Zeit zu Zeit zeigt ein dumpfes Murmeln unter der Oberfläche oder eine plötzlich emporlodernde Flamme, was in der Tiefe vor sich geht. Hin und wieder wird die gebildete Welt durch einen Zeitungsartikel in Erstaunen gesetzt, der berichtet, wie in Schottland ein Bild gefunden wurde, das mit Nadeln durchlöchert war, um irgendeinen Grundherrn oder Geistlichen zu töten, wie eine Frau in Irland langsam als Hexe verbraunt oder wie ein Mädchen in Rußland ermordet und zerstückelt wurde, um jene Kerzen aus Menschentalg herzustellen, bei deren Schein Diebe hoffen, ihr mitternächtliches Gewerbe ungesehen verrichten zu können. Ob nun aber die Einflüsse, die einen weiteren Fortschritt begünstigen, oder diejenigen, welche drohen, das schon Erreichte wieder ungeschehen zu machen, den Endsieg davontragen werden, ob die impulsive Kraft der Minderheit oder das Schwergewicht der überwiegenden Mehrheit der Menschen sich als die stärkere Macht erweisen wird, uns höher hinaufzuführen oder uns noch tiefer in den Abgrund zu stürzen, sind Fragen, die eher den Weisen, den Moralisten und den Staatsmann angehen, deren Adlerblick in die Zukunft dringt.  - (fraz)

Murmeln (2)  Obwohl wahrscheinlich nichts von deiner okkulten Existenz etwas weiß, braucht das, was mehr murmelt als spricht, dich gerade um zu murmeln -also die Idee des Murmeins an sich, aber nicht dessen, der murmelt, sondern deine, der du hörend bestätigst: er murmelt. Ich habe gesagt: er. Doch was hat es für einen Sinn, so zu reden, als ob irgend jemand mit Sicherheit wüßte, ob dieses Murmeln weiblich oder männlich ist? Aber gerade weil deine Funktion des Hörens für den Fortgang der Rede wesentlich ist, die du als fremd, unvertraut, alternativ oder wie auch immer empfindest, wirst du vielleicht bemerken, daß das, wozu wir Murmeln sagten, sich nach und nach verändert; allein die Tatsache, daß wir sagten, er murmelt, läßt den Gedanken zu, wir hätten bemerkt, daß der Plapperreim jetzt ein Murmeln geworden ist - natürlich unverständlich, natürlich unzusammenhängend, natürlich unfähig zu Artikulation und Wort, aber jedenfalls kontinuierlicher und deshalb ähnlicher der Rede eines Delirierenden als dem Flüstern des Schläfrigen. Delirium, sagte ich, und das wird dich dazu führen, dir Fragen über die Natur des Dorfs zu stellen, das du in Wirklichkeit nur sehr flüchtig kennst. Ist dieses aufgeregte Flüstern womöglich ein Zeichen, daß du dich hier an einem kranken Ort befindest, ja vielleicht sogar im Zentrum der Epidemie, und daß vielleicht alles, was geschieht, nichts weiter ist als das Symptom einer Krankheit, die dazu fähig ist, Dörfer, Nacht und Stimmen zu produzieren? - Giorgio Manganelli, Geräusche oder Stimmen. Berlin 1989
 
 

Reden Geräusch

 

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