ordwanze   Ich bin eine Mordwanze«, sagte der Unglückliche und blies mir seinen scheußlichen Atem mitten ins Gesicht. »Ich kann schmerzhafte Stiche versetzen und andere Insekten buchstäblich aussaugen. Einmal in ein ausgewachsenes Insekt verwandelt, erlerne ich die Fähigkeit, mich meinen Opfern mimetisch anzupassen.«

»Also gut«, sagte ich, unterdrückte ein Gähnen und traf Vorbereitungen, mir Notizen über die Albernheiten zu machen, die er mir von jetzt an noch erzählen würde. »Sie haben gesagt ›andere Insekten‹. Betrachten Sie sich allen Ernstes als Insekt?«

»In der Tat«, erwiderte der Mann und nahm stolz eine aufgerichtete Sitzhaltung ein. »Ich bin ein Insekt, um genau zu sein, ein redivius iracundus. Die übliche Bezeichnung allerdings lautet, wie ich ihnen bereits sagte, Mordwanze.«

»Ein echtes Insekt?«

»Wenn sie genau hinsehen, werden sie erkennen, daß ich Kopf, Torax und Unterleib besitze und daß ich außerdem eine Trachäenatmung benutze. Wäre ich ein Mensch, hätte ich eine Lunge.«

»Beweisen sie mir,daß sie über ein Trachäensystem verfügen«, forderte ich und klopfte mir mit dem Kugelschreiber an die Zähne. »Sie brauchen sich nicht zu beeilen. Ich gebe ihnen alle Zeit, die sie brauchen.«

Der Mann schwieg eine \Veile. Dann sagte er, er könne mir das geforderte nicht demonstrieren, was aber nichts besage, denn es gebe Dinge, die man nicht beweisen könne, die aber trotzdem existierten.

»In gewisser Weise«, erklärte er, »ist das, was sie soeben angesprochen haben, genau das Problem des Verhältnisses von Glauben und Vernunft, so wie es bereits in den Schriften der Kirchenväter dargelegt ist: Intelliga ut credes, crede ut intelligas.

»Ja, ja, einverstanden. Hören sie schon auf mit ihrem Sermon«, sagte ich, ohne auch nur ein Wort von seinem Gerede verstanden zu haben. »Zeigen sie mir -wenigstens ihre Fühler. Alle Insekten haben Fühler.«

»Ich habe keine Fühler«, antwortete er, und ich notierte in Blockschrift: ›Versichert, er sei ein Insekt, hat aber keine Fühlerv. Dann blickte ich ihm geradewegs ins Gesicht, bot ihm eine Zigarette an und bat ihn, mir sein wahres Problem zu erzählen, denn ich sei schließlich da, um es zu lösen. »Ich habe kein Problem«, antwortete er, »nicht im geringsten. Wer hat ihnen gesagt, daß ich Probleme hätte?«   - Javier Tomeo, Zoopathologie. Berlin 1994 (zuerst 1992)

 

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