oira in solcher Gegend, einem werdebereiten, einen ganzen Bezirk überdachenden Basilikaraum, sehe ich, grau vorm grauen Nebel der Wände, den Urstoff eines wallenden Tuchs, über das sich eine schon im Sichtbarsein befindliche Alte beugt. - Eine der Parzen, denke ich ehrfürchtig, und wage es, mich ihr zu nahen; und Moira — denn es ist die unentfaltete Dreiheit — sieht auf, doch sie unterbricht nicht ihr Tun. — Was schaffst du, Mütterchen, murmle ich ehrfurchtsvoll, wessen Tuch ist es, das du webest, daß es von solch unübersehbaren Maßen ist? Denn siehe, es füllt ja schon kniehoch die Königshalle, und es flutet weit über das Land, als sei es zum Hemd für ein Volk bestimmt, mit all seinen Toten und Ungebomen. — Ei, webe ich denn? murmelt Moira verwundert, und nun sehe ich, daß die Alte das Tuch nicht schafft, sondern etwas darin einstickt, eisgraue Zeichen merkwürdiger Alphabete, Hebräisch vielleicht, aber Gesichter in den balkenumschlossenen Hohlräumen der Sigel, und die Gesichter gefärbt, wie das Eis gefärbt ist, milchig in Ahnungen von Blau oder Grün.
— Für wen, Mütterchen, wirkst du diese Lose? frage ich erschauernd, denn ich spreche Chaldäisch, und Moira murmelt, ich möge nur die Augen auftun, es sei ja auch mein eigenes Los. - Ich betrachte die Zeichen, ich kann sie nicht lesen, doch ich weiß, daß es Totem-Zeichen sind, Zeichen für Freund oder Feind einer Stammesgeschichte, und nun sehe ich unter den wallenden Falten des Gespinstes lange Reihen von Föten ziehen. Sie schweben, gesichtslos, lurchenähnlich im flutenden Grau der Basilika wie in der Gebärmutter eines Schicksals, das mehr als das eines Einzelnen ist, und ich ahne, daß sie auf unbegreifliche Weise mit den eisgrauen Köpfen verwachsen werden.
— Webst du die Sprache, Mütterchen? flüstre ich, doch Moira schüttelt
den Kopf und murmelt: Mehr! — Mehr als die Sprache, denke ich ungläubig,
und jetzt genügt es, daß ich nur denke, denn Moira hebt das Haupt und sagt
in einem Ton, den man schalkhaft nennen könnte, wenn er nicht zugleich
von äußerster Erschöpftheit wäre: Und weniger, Söhnchen, mehr und weniger,
denn mehr ist weniger, weniger mehr! — Eine von Macbeth' Hexen,
denke ich, und Moira murmelt, an einem Gesicht ohne Züge wirkend: Das Sigel
Liebe, das Sigel Haß; der
Ahne, der Führer, die Feinde, die Freunde; das Dunkle, das Lichte; das
Sigel des Glaubens — und sie weist auf das mondhaft bläuliche Gesicht ohne
Augen und Mund unter ihren Fingern und murmelt schon beinahe unhörbar:
Söhnchen, siehe das Sigel des Glaubens, man hat es dir zweimal abgetrennt,
Söhnchen, doch ein drittes Mal löst es sich nicht mehr! - und da sehe ich
die Föten in das Tuch hineinziehn und sehe ahnend an mir hinunter und sehe
rohes, hautloses Fleisch, und Moira murmelt, im Tuch versinkend: Siehe
die Gnade!, und sanft legt sich der wallende Stoff um meine geschundenen
Füße und kriecht, das schiere blutige Fleisch behäutend,
unaufhaltsam an mir über Knöchel, Waden, Schenkel, Glied und Hüften bis
zur Brust und weiter zum Kinn hinauf; Nebelgrau steigt mir bis unter die
Augen; Eisgrau umhüllt mich, ich fühle Kälte,
und fern das Gemurmel von Moira zu hören wähnend, träume ich, daß ich erwacht
bin. - Franz Fühmann, Dreizehn Träume. Berlin 1991. In: Der Mund
des Propheten. Späte Erzählungen (AtV 75, zuerst 1983)
Moira (2)
|
||
|
|
|