oderne »Glaubt ihr an Götter?«
»Ja, an die Vergänglichkeit und daß immer das gleiche wiederkehrt. Die Geschichte ist sinnlos und wird vom Zufall bestimmt. Neben der Vergänglichkeit glauben wir also an den Zufall und ans Unvorhergesehene. Das Unwahrscheinliche und das Absurde sind unsere Gottheiten, wenn du so willst. Oder anders ausgedrückt: wir sind konsequent modern. Das muß dir doch gefallen, wie? Oder glaubst du an ein Leben, das der Läuterung entgegengeht? Jeder erlebt nur Momente, Impressionen, Episoden und spürt den Hauch des Augenblicks.«
»Zuviel Philosophie«, sagte ich. -
Hermann Lenz, Spiegelhütte. Frankfurt am Main 1999 (zuerst 1962)
Moderne (2) Ich war
im Kino, ich bin durch die Straßen gegangen, ich
habe die Zeitungen meiner Zeitgenossen gelesen. In allem sah ich nur die
Zeichen neuer Gewaltsamkeit. Das Moderne heute gehört nicht mehr den Poeten.
Es gehört den Bullen. Die Wandlung vollzieht
sich überall : Aus dem Plakat wird ein flammender Eiffelturm mit der Aufschrift
Citroen; im Kino stehen die unbegrenzten Möglichkeiten Amerikas im Dienst
einer Apotheose der Polizei; auf der Straße kann
niemand sich mehr sicher glauben, denn die beamteten Schläger sind bewaffnet;
allen Zeitungsspalten drängt sich das Gesicht des Polizeipräsidenten auf.
Überall geht das Gespenst der Repression um. -
(ara)
Moderne (3) Aber die Arbeit, die den meisten »Eindruck hinterlassen« hatte, nicht nur beim Publikum der Idioten und müßigen Besucher, sondern auch dem der Kunstverständigen, der Käufer, der Zahnärzte, der Kritiker, war eine spektakuläre Katastrophe apokalyptischer Inspiration mit dem Titel »Der Mensch und der Engel«; in der sich —in einem Rahmen von drei Meter zwanzig auf vier Meter — allmählich stürmische Wolken, geladen mit elektrischer Spannung, angesammelt hatten: so daß bereits Blitze und Wetterleuchten zuckten und die Blitze, einer schlimmer als der andere, von oben, gelb, im Zickzack herunter schössen, um unten einen Strohhaufen anzuzünden.
Unter dieser Unmasse von Wolken stellten einige zylindrische und kegelstumpfförmige Berge dem Publikum leichtzulösende Stereometrie-Probleme. Ein bläulicher Pudelhund floh offenen Mauls vor dem in Brand geratenen Strohhaufen. Einige Pferdchen, Zicklein und Kälbchen warteten hingegen geduldig unterm Hagel darauf, am Wcihrtachtsbaum der Armen aufgehängt zu werden. Im Hintergrund, zwischen dem Himmel und der Erde, ein stilisierter Regenbogen, von einer Konsistenz wie Mayonnaise: doch dann erneut, hinter allen Bergen und Feldern, weit, weit, ein Himmel mit Schäfchenwolken und strömender Regen.
Den Donnerschlag hörte man noch nicht; ich spreche vom Jahr 1929: aber es war klar, daß das Bild, wenn mit Ton unterlegt, durchaus gewittrige Effekte hatte hervorbringen können.
Der Mensch, mutlos geworden durch solchen Zorn der feindlichen Elemente, hatte sich in eine Ecke gekauert: man begriff nicht recht, ob er da saß oder was zum Teufel er machte: noch am ehesten sah es so aus, als untersuche er seine Füße; aber dabei stürzte sich der Engel horizontal auf ihn; ohne Flügel; und das war das Neue daran, wenngleich einem dabei ein wenig der Gottvater einfiel, der Adam den Lebensfunken verleiht im »Gericht« des Michelangelo.
So voller Kühnheit, Kraft und Bewegung, entzündete dieser Engel lyrische
Ausbrüche bei einigen nilpferdartigen Kornmerzialräten von Garbagnate und von
Tradate, die — nach'm Frühstück — in dem Bild Bewegung erkannten, vor allem
Bewegung. Aber das Üble war, daß trotz der in einem so vornehmen Umfeld, wie
es, man stelle sich vor, das Institutskonvikt der Engel war, empfangenen Erziehung,
dieser Engel doch eine Haartolle, eine Nase und ein Ohrfeigengesicht hatte,
würdig der unverschämtesten und geilsten Gestalten von Porta San Frediano: und
da er, unerhörterweise, den Pyjama im Hotel vergessen hatte, und da auch nicht
mehr die in promptu verfügbaren, etwas vernünftigen Bettlaken zur Hand waren,
wie im vergnüglichen Neunzehnten Jahrhundert, stand er, obgleich Engel, da,
ausgerüstet mit so menschlichen Attributen, daß die Fräuleinchen vom Lyzeum
gezwungen waren ... vom Thema abzuschweifen: und wir Manner konnten nicht umhin,
drüber nachzudenken, daß, nun ja, gewiß doch, auch den Engeln,
eine bescheidene Abwechslung, alles in allem ... vor allem in ihrem Alter ...
und überhaupt ... überhaupt ... zur Fortpflanzung
der Engelspezies... Und schließlich, die Moderne, hat sie nicht auch ihre Ansprüche
und Rechte? Das alte Jahrhundert weiche dem neuen! »Ihr werdet doch nicht, ihr
wollt's doch am End' auch nicht...«, donnerte ein untersetzter mäzenverdächtiger
Kommerzrat, indem er die große Leinwand von der Seite anschaute, einige Schritte
zurücktrat, halb die Augen schloß und die Hand als Fernrohr benützte und sich
dann wieder näherte: »Ihr wollt doch nicht ... daß ein Penella euch einen Engel
mit Hühnerflügeln macht, wie auf dem Familiengrab der Grafen Brocchi auf dem
Monumentalfriedhof ... wo so ein Engel runterfegt, mit Flügeln
wie eine Henne ... aber, tut mir doch den Gefallen,
da bitt' ich doch sehr, tut mir doch den Gefallen...!«. und er drehte sich mit
großem Schwung, nur auf einem Absatz, herum und grabschte in seiner Hosentasche
nach dem Besten, was er dort greifen konnte; und war dabei so großzügig in seiner
Streitbarkeit, so weitherzig, und so apoplektisch. Der streitbare Industriemann
spürte nunmehr die Moderne ganz hautnah, wie eine Wiederkehr des Frühlings.
- Carlo Emilio Gadda, Cupido im Hause Brocchi. Berlin 1983 (zuerst 1931
ff.)
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