Mitfließen  Schon bald erhoben sich aus dem Gras, mit fast regelmäßigen Abständen, alte verkommene Kopfweiden, dann gab es die Weiden auch auf der anderen Seite des Bachs; da sie stets in die Zwischenräume der Weiden diesseits des Bachs gesetzt waren und sich von drüben herüber neigten, ebenso, wie die Weiden diesseits schräg hinüber strebten über die Bachmitte, wurde von dem sprossenden Gezweig auf ihren dickgeschwollenen Häuptern geradezu ein Dach über dem Flüßchen gebildet, unter dem nun, besonders wenn die Dämmerung dichter fiel, das Rieseln des Wassers stärker tönte, ja, bald zu widerhallen schien, wie in einem langgestreckten Gewölbe. Und wenn ich anhielt und lauschte, kam es vor, daß ich mich selbst im Innern dieser Überdachung aus Weidengezweig wähnte, und manchmal glaubte ich mitzufließen, schaukelnd unter einem schwarzen Baldachin aus Weidenzweigen, in einer Barke von ätzender Trauer, unergründlich treibend in ziellosen Kreisen, um auf dem Sand ganz anderer Gegenden zu stranden. Nun waren die Stimmen des Fließens zu einem dichten Geräusch geworden, so daß ich alles übrige Geraun aus der Dunkelheit, die das Ende des Abends besiegelt hatte, nicht mehr wahrnahm, wiewohl es noch da war, vielleicht in Form eines Schreitens über den Feldern, in Form von Geraschel, von dem die Blätter windig durchstreift wurden, zusätzlich vielleicht in Form rollender Geräusche eines fernen Eisenbahnzugs, der fuhr und fuhr, als dürfe er die ganze Nacht hindurch sein Rollen und Klappern nicht enden lassen. Dann war das Geräusch des Gewässers ein Rieseln, das mir geschwätzig um die Gliedmaßen rann und mehr und mehr alles überströmte und zudeckte, was von draußen noch in meine Müdigkeit eindringen wollte. Und es war das Geräusch meiner Müdigkeit selbst, die lärmte und schäumte . . . wenn ich auch eher an die Ahnungen hellwachen Trippeins und Wisperns glaubte, eher an schlafsuchende Schatten, tappend und schwatzend, wenn das Wasser über die Wurzeln der Weiden am Rand des Grabens spülte, wenn es manchmal einen Stein oder eine Handvoll Erde aus dem Ufer löste, oder an niederhängenden Halmen entlangstrich, daß die Vorstellung eines winzigen Sprühens oder Zischens entstand, dem nachzulauschen sofort nicht mehr möglich war, weil es hinter mir verschwand, oder hinter dem nächsten Zischen oder Sprühen schon zurückgeblieben war. Wenn ich meinte, die Geräusche würden von dem Flüßchen vor mir davongetragen, dann wußte ich für mich, daß ich auf dem Rückweg war, auf einem schon halb unbewußten Rückweg, in meiner Schläfrigkeit, der ich zu entrinnen suchte, die aber immer wieder vor mir entstand. Es war das Flüßchen, das mir entrann . . . doch sein Rinnen erneuerte sich fortlaufend vor mir, fortwährend erneuerte sich sein Fortlaufen vor mir. . . so daß ich manchmal, anhielt, mich zu vergewissern, ob das Rinnsal nicht hinter mir umgekehrt sei, oder abgedriftet sei in einen Seitenarm, und im Begriff, mich inmitten völliger Lautlosigkeit zurückzulassen: ich entsann mich, daß ich dem Wasser, seinem Geräusch, wenige Schritte schnell nachlief, um ein schnell versunkenes Gekicher, das ich vor einem Augenblick glaubte gesehen oder gehört zu haben, wieder einzuholen . . . doch schon war es mir für immer entronnen, für immer war mir die Erinnerung daran verflossen, und ehe ich es begriff, war mir in meiner Schläfrigkeit die Erinnerung an die Richtung entflohen, und damit die Richtung meines Rückwegs. Und ich witterte angestrengt, um zu hören, wohin das Wasser floß: die Entscheidung darüber war mir nicht möglich, das Gehör diente mir nicht zu jener Orientierung, die meinem Auge leicht gewesen wäre, es war, als ströme das Wasser über mich hinweg, es floß in meinem ermüdeten Hirn nach verschiedenen Richtungen, es floß grenzenlos, so grenzenlos wie ein fern verebbendes Eisenbahngeräusch, das dennoch nicht aus dem Territorium zu fahren vermochte, in dessen Mitte ich stand, inmitten eines Territoriums, das konzentrisch den Ort umkreiste, auf dem ich die Augen geschlossen hielt. Geräusch über Geräusch rann mir beißend durch die Augen, und ich wußte, während ich weiter hastete, daß ein sonderbarer hellgrauer Dunst mich einhüllte, ein süßschmeckender Atem, er trocknete mir die Rachenhöhle aus, schien meinen Schritt zu hemmen und lag mir schwer auf Gesicht und Gliedern. - Wolfgang Hilbig, Alte Abdeckerei. Frankfurt am Main 1991
 
 

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