Mißtrauen   Nach kurzer Zeit wurde die Tür einen winzigen Spalt weit geöffnet; die Inhaberin der Wohnung musterte den Ankömmling durch den Spalt mit sichtlichem Mißtrauen, und man sah nur ihre aus dem Dunkel leuchtenden kleinen Augen. Als sie aber die vielen Leute auf dem Treppenabsatz erblickte, wurde sie kühner und machte die Tür ganz auf.

Der junge Mann trat über die Schwelle in eine dunkle Diele; sie war in der Mitte durch eine Bretterwand geteilt, hinter der eine winzige Küche lag. Die Alte stand schweigend vor ihm und blickte ihn fragend an. Sie war eine sehr kleine, dürre alte Frau von etwa sechzig Jahren, mit scharfen, bösen, kleinen Augen, einer kleinen spitzen Nase und bloßem Kopf. Ihr weißblondes, kaum ergrautes Haar war dick mit Fett eingeschmiert. Um den dünnen langen Hals, der aussah wie ein Hühnerbein, hatte sie einen Flanellappen gewickelt, und über die Schultern hing ihr trotz der Hitze ein völlig abgetragener, vergilbter Pelzkragen. Die Alte hustete und krächzte in einem fort. Offenbar sah sie der junge Mann mit einem auffallenden Blick an; denn in ihren Augen blitzte plötzlich wieder das frühere Mißtrauen auf.

»Raskolnikow, Student; ich war schon vor einem Monat bei Ihnen«, murmelte der junge Mann hastig, während er sich halb verneigte; denn es fiel ihm ein, daß er recht höflich sein mußte.

»Ich weiß, mein Lieber, ich weiß sehr gut, daß Sie hier waren«, sagte die Alte deutlich, ohne ihren fragenden Blick von seinem Gesicht zu wenden.

»Nun also ... ich komme wieder in der gleichen Sache ...« fuhr Raskolnikow fort, ein wenig verwirrt und verwundert durch das Mißtrauen der Alten.

Vielleicht ist sie immer so, und ich habe es damals nur nicht gemerkt, dachte er mit einem unangenehmen Gefühl.

Die Alte schwieg, als dächte sie nach, dann trat sie zur Seite, zeigte auf die Tür, die ins Wohnzimmer führte, und sagte, während sie den Gast vorangehen ließ: »Treten Sie ein, lieber Herr.«

Das kleine Zimmer, das der junge Mann betrat, ein Raum mit gelben Tapeten, mit Geranien und Musselingardinen an den Fenstern, war in diesem Augenblick von der untergehenden Sonne hell erleuchtet. Auch dann wird die Sonne so scheinen . . .! fuhr es Raskolnikow plötzlich durch den Kopf, und mit einem raschen Blick überflog er alle Gegenstände im Zimmer, um sich ihre Lage nach Möglichkeit einzuprägen und zu merken. - Fjodor M. Dostojewskij, Schuld und Sühne. München 1987

Mißtrauen (2)  Denken Sie nach, Lucrezia, welches Interesse könnte ich haben, Sie anzulügen? Mich beunruhigt Ihr Mißtrauen, meine Freundin, und es beunruhigt mich nicht nur, weil Sie meine Aufrichtigkeit in Zweifel ziehen, sondern auch wegen Ihnen. Wenn Sie nämlich glauben, daß ich Sie anlüge, und trotzdem am Telefon bleiben, dann muß ich einfach annehmen, daß Sie eine arme Frau sind, die, von Einsamkeit überwältigt, nicht die geringste Möglichkeit ungenutzt lassen möchte, mit dem erstbesten Mann, der das Wort an sie richtet, eine Unterhaltung anzuknüpfen... Ich muß sogar annehmen, daß Sie schon ein recht bejahrtes Mädchen sind (vielleicht am Rand der Menopause), das niemals das Glück gehabt hat, sich in den Augen eines Mannes widergespiegelt zu sehen. Verzeihen Sie, wenn Ihnen das, was ich Ihnen jetzt sage, nicht behagt, aber Sie waren es, die meine schlechte Laune provoziert hat... Ich kann mir nicht helfen, mißtrauische Menschen bringen mich auf die Palme. Das ist die schlimmste Form der Einsamkeit, Ramona, die Einsamkeit der Mißtrauischen. Warum dauernd befürchten, daß sich jemand hinter dem Vorhang versteckt hat und sich anschickt, unseren Wein zu vergiften? ... Schon gut, schon gut.  - Javier Tomeo, Der Löwenjäger. Berlin 1988

Mißtrauen (3)  

- B. Kliban

 

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Verwandte Begriffe
Zweifel

Vertrauen

Synonyme
Argwohn

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