imikry
Die Praktiken, welche in der verfeinerten Gesellschaft
gefordert werden: das sorgfältige Vermeiden des Lächerlichen,
des Auffälligen, des Anmaßenden, das Zurückstellen
seiner Tugenden sowohl wie seiner heftigeren Begehrungen, das Sich-gleich-geben,
Sich-einordnen, Sich-verringern, — dies alles als die gesellschaftliche Moral
ist im Groben überall bis in die tiefste Tierwelt hinab zu finden, — und erst
in dieser Tiefe sehen wir die Hinterabsicht aller dieser liebenswürdigen Vorkehrungen:
man will seinen Verfolgern entgehen und im Aufsuchen seiner Beute begünstigt
sein. Deshalb lernen die Tiere sich beherrschen und sich in der Weise verstellen,
daß manche zum Beispiel ihre Farben der Farbe der Umgebung anpassen (vermöge
der sogenannten „chromatischen Funktion"), daß sie sich tot stellen oder
die Formen und Farben eines anderen Tieres oder von Sand, Blättern, Flechten,
Schwämmen annehmen (das, was die englischen Forscher mit mimicry bezeichnen).
So verbirgt sich der einzelne unter der Allgemeinschaft des Begriffes „Mensch"
oder unter der Gesellschaft, oder paßt sich an Fürsten,
Stände, Parteien, Meinungen der Zeit oder der Umgebung an: und zu allen den
feinen Arten, uns glücklich, dankbar, mächtig, verliebt zu stellen, wird man
leicht das tierische Gleichnis finden. Auch jenen Sinn für Wahrheit,
der im Grunde der Sinn für Sicherheit ist, hat der Mensch mit dem Tiere gemeinsam:
man will sich nicht täuschen lassen, sich nicht durch sich selber irre führen
lassen, man hört dem Zureden der eigenen Leidenschaften mißtrauisch zu, man
bezwingt sich, und bleibt gegen sich auf der Lauer; dies alles versteht das
Tier gleich dem Menschen, auch bei ihm wächst die Selbstbeherrschung aus dem
Sinn für das Wirkliche (aus der Klugheit) heraus. Ebenfalls beobachtet es die
Wirkungen, die es auf die Vorstellung anderer Tiere ausübt, es lernt von dort
aus auf sich zurückblicken, sich „objektiv" nehmen, es hat seinen Grad
von Selbsterkenntnis. Das Tier beurteilt die Bewegungen seiner Gegner und Freunde,
es lernt ihre Eigentümlichkeiten auswendig, es richtet sich auf diese ein: gegen
einzelne einer bestimmten Gattung gibt es ein für allemal den Kampf auf und
ebenso errät es in der Annäherung mancher Arten von
Tieren die Absicht des Friedens und des Vertrags. Die Anfänge der Gerechtigkeit,
wie die der Klugheit, Mäßigung, Tapferkeit,
— kurz alles, was wir mit dem Namen der sokratischen Tugenden bezeichnen,
ist tierhaft: eine Folge jener Triebe, welche lehren, nach Nahrung zu suchen
und den Feinden zu entgehen. - (
mo
)
Mimikry (2) Ein unsichtbares Flugobjekt der
Oniweig stürzt ab, mitten in Paris, direkt auf die Kreuzung vor der Terrasse
des Pavillon de Hanovre: »eine Katastrophe, die ihresgleichen nicht hat in der
Geschichte der Jahrhunderte: ein phantastisches Tohuwabohu von ineinandergefahrenen
Wagen, von stürzenden Pferden, von totenbleichen Kutschern, tollgewordenen Chauffeuren,
von blutüberströmten Menschen, die um sich schlugen, nach allen Seiten zerstoben...«
Sachverständige, unter ihnen Jean Le Tellier, finden sich ein, um für Ordnung
zu sorgen und plausible Erklärungen zu verlesen. Schließlich dringt man in diesen
zwar nicht sichtbaren, jedoch greifbaren Körper ein. Es werden eine Fülle von
Gipsabdrücken gemacht, um quasi am Abdruck jedes Gegenstandes seine sichtbare
Dimension zu erkennen und Aufschluß über den Stand der Technik jener Unglücksboten
zu bekommen. Bestürzt entdeckt man in einem hinteren Raum des Flugobjekts eine
Gestalt, die rein äußerlich Ähnlichkeiten mit einem Menschen hat. Erst bei näheren
Untersuchungen stellt man fest, daß es sich um »ein Agglomerat von Tieren handelte,
die sich in Menschenform zusammengeschlossen hatten, und die Tiere waren Spinnen...«
Diesem Phänomen von Mimikry konnte man nur menschliche Logik entgegenbringen,
also sah man darin »ein Verteidigungsmittel! Eine Kriegslist! Als sie sich in
unserer Gewalt sahen, dachten diese Spinnen, daß wir unseresgleichen schonen
würden.« - Jörg Krichbaum, Rein A.Zondergeld: Die Sehnsucht der Sirene nach
dem Wasser. Die Welt des Maurice Renard. In: Polaris 4. Hg. Franz Rottensteiner.
Frankfurt am Main 1978 (Phantastische Bibliothek, st 460)