- G.W.F. Hegel,
Phänomenologie
des Geistes
(1807)
Menschenverstand, gesunder (2) Gesunder Verstand (bon sens) ist jenes Maß von Urteilskraft und Intelligenz, mit dem sich jeder Mensch - zu seinem Vorteil - aus den gewöhnlichen Angelegenheiten der Gesellschaft herausziehen kann.
Nehmen Sie dem Menschen den gesunden Verstand, so reduzieren Sie ihn auf
die Fähigkeit (qualité) eines Automaten oder eines Kinds. Von den Kindern, so
scheint mir, fordert man eher Geist als gesunden Verstand; das läßt mich glauben,
daß gesunder Verstand stets Erfahrung voraussetzt und daß man der Fähigkeit,
deduktive Schlüsse aus Erfahrungen zu ziehen, ganz allgemein die unmittelbarsten
induktiven Schlüsse verdankt. In der französischen Sprache besteht ein großer
Unterschied zwischen einem Menschen von Verstand (sens) und einem Menschen
von gesundem Verstand (bon sens): Der Mensch von Verstand besitzt Tiefe
in den Kenntnissen und große Genauigkeit im Urteil; dies ist ein Prädikat, mit
dem man jedem Menschen schmeicheln kann. Der Mensch von gesundem Verstand gilt
dagegen für einen so gewöhnlichen Menschen, daß
man glaubt, man könne sich ohne Eitelkeit für einen solchen ausgeben. Übrigens
gibt es nichts Relativeres als die Ausdrücke Verstand, gesunder Verstand, Geist,
Urteilskraft, Durchdringungsvermögen, Scharfsinn, Genie und alle jene anderen
Ausdrücke, die sowohl das Ausmaß als auch die Art der Intelligenz jedes Menschen
bestimmen. Man verleiht diese Eigenschaften oder erkennt sie zu, je nachdem
man selbst sie mehr oder weniger verdient.
- (
enz
)
Menschenverstand, gesunder (3) »Wollen Sie damit sagen«, fragte Tarrant, »daß wir tatsächlich jetzt von irgend etwas getötet werden können, das sich im 13. Jahrhundert abgespielt hat?«
Father Brown schüttelte den Kopf und antwortete mit ruhiger Betonung:
»Ich will nicht erörtern, ob wir von irgend etwas getötet werden können, das sich im 13.Jahrhundert abgespielt hat; aber ich bin völlig sicher, daß wir nicht von etwas getötet werden können, das sich im 13.Jahrhundert nie ereignet hat, das sich überhaupt nie ereignet hat.«
»Fein«, sagte Tarrant, »es ist erfrischend, einem Priester zu begegnen, der dem Übernatürlichen so skeptisch gegenübersteht.«
»Durchaus nicht«, erwiderte der Priester gelassen; »ich zweifle nicht an der übernatürlichen Seite der Sache. Aber an der natürlichen. Ich befinde mich genau in der Lage des Mannes, der sagte: >Ich kann an das Unmögliche glauben, aber nicht an das Unwahrscheinliche.«
»Das würden Sie ja wohl ein Paradox nennen, oder?« fragte der andere.
»Das würde ich gesunden Menschenverstand nennen, richtig verstanden«, erwiderte
Father Brown. »Es ist viel natürlicher, eine übernatürliche Geschichte zu glauben,
die für uns unverständliche Dinge behandelt, als eine natürliche Geschichte,
die uns verständlichen Dingen widerspricht. Wenn Sie mir erzählen, daß den großen
Gladstone in seiner letzten Stunde der Geist Parnells heimsuchte, werde ich
mich agnostisch verhalten. Wenn Sie mir aber erzählen, daß Gladstone, als er
zum ersten Mal der Königin Viktoria vorgestellt wurde, in ihrem Boudoir den
Hut aufbehielt, ihr aufdie Schulter klopfte und ihr eine Zigarre anbot, dann
werde ich mich alles andere als agnostisch verhalten. Das wäre nicht unmöglich;
sondern nur unglaublich. Und doch bin ich sehr viel sicherer, daß es nicht geschehen
ist, als daß Parnells Geist nicht erschienen wäre; weil es die Gesetze der Welt
verletzt, die ich verstehe. So ist das auch mit der Geschichte vom Fluch. Nicht
die Legende glaube ich nicht - sondern die Geschichte.« -
G. K. Chesterton, Der Fluch des Goldenen Kreuzes. In: G.K.C., Father Browns
Ungläubigkeit. Zürich 1991
|
||
|
||