enschenverstand, gesunder   Im ruhigern Bette des gesunden Menschenverstandes fortfließend gibt das natürliche Philosophieren eine Rhetorik trivialer Wahrheiten zum besten. Wird ihm die Unbedeutenheit derselben vorgehalten, so versichert es dagegen, daß der Sinn und die Erfüllung in seinem Herzen vorhanden sei, und auch so bei andern vorhanden sein müsse, indem es überhaupt mit der Unschuld des Herzens und der Reinheit des Gewissens und dergleichen letzte Dinge gesagt zu haben meint, wogegen weder Einrede stattfinde noch etwas weiteres gefordert werden könne. Es war aber darum zu tun, daß das Beste nicht im Innern zurückbliebe, sondern aus diesem Schachte zutage gefördert werde. Letzte Wahrheiten jener Art vorzubringen, diese Mühe konnte längst erspart werden, denn sie sind längst etwa im Katechismus, in den Sprichwörtern des Volks usf. zu finden. – Es ist nicht schwer, solche Wahrheiten an ihrer Unbestimmtheit oder Schiefheit zu fassen, oft die gerade entgegengesetzte ihrem Bewußtsein in ihm selbst aufzuzeigen. Es wird, indem es sich aus der Verwirrung, die in ihm angerichtet wird, zu ziehen bemüht, in neue verfallen und wohl zu dem Ausbruche kommen, daß ausgemachtermaßen dem so und so, jenes aber Sophistereien seien – ein Schlagwort des gemeinen Menschenverstandes gegen die gebildete Vernunft, wie den Ausdruck Träumereien die Unwissenheit der Philosophie sich für diese ein für allemal gemerkt hat. – Indem jener sich auf das Gefühl, sein inwendiges Orakel, beruft, ist er gegen den, der nicht übereinstimmt, fertig; er muß erklären, daß er dem weiter nichts zu sagen habe, der nicht dasselbe in sich finde und fühle – mit andern Worten, er tritt die Wurzel der Humanität mit Füßen. Denn die Natur dieser ist, auf die Übereinkunft mit andern zu dringen, und ihre Existenz nur in der zustande gebrachten Gemeinsamkeit der Bewußtsein. Das Widermenschliche, das Tierische besteht darin, im Gefühle stehenzubleiben und nur durch dieses sich mitteilen zu können. - G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807)

Menschenverstand, gesunder  (2) Gesunder Verstand (bon sens) ist jenes Maß von Urteilskraft und Intelligenz, mit dem sich jeder Mensch - zu seinem Vorteil - aus den gewöhnlichen Angelegenheiten der Gesellschaft herausziehen kann.

Nehmen Sie dem Menschen den gesunden Verstand, so reduzieren Sie ihn auf die Fähigkeit (qualité) eines Automaten oder eines Kinds. Von den Kindern, so scheint mir, fordert man eher Geist als gesunden Verstand; das läßt mich glauben, daß gesunder Verstand stets Erfahrung voraussetzt und daß man der Fähigkeit, deduktive Schlüsse aus Erfahrungen zu ziehen, ganz allgemein die unmittelbarsten induktiven Schlüsse verdankt. In der französischen Sprache besteht ein großer Unterschied zwischen einem Menschen von Verstand (sens) und einem Menschen von gesundem Verstand (bon sens): Der Mensch von Verstand besitzt Tiefe in den Kenntnissen und große Genauigkeit im Urteil; dies ist ein Prädikat, mit dem man jedem Menschen schmeicheln kann. Der Mensch von gesundem Verstand gilt dagegen für einen so gewöhnlichen Menschen, daß man glaubt, man könne sich ohne Eitelkeit für einen solchen ausgeben. Übrigens gibt es nichts Relativeres als die Ausdrücke Verstand, gesunder Verstand, Geist, Urteilskraft, Durchdringungsvermögen, Scharfsinn, Genie und alle jene anderen Ausdrücke, die sowohl das Ausmaß als auch die Art der Intelligenz jedes Menschen bestimmen. Man verleiht diese Eigenschaften oder erkennt sie zu, je nachdem man selbst sie mehr oder weniger verdient. - (enz)

Menschenverstand, gesunder  (3) »Wollen Sie damit sagen«, fragte Tarrant, »daß wir tatsächlich jetzt von irgend etwas getötet werden können, das sich im 13. Jahrhundert abgespielt hat?«

Father Brown schüttelte den Kopf und antwortete mit ruhiger Betonung:

»Ich will nicht erörtern, ob wir von irgend etwas getötet werden können, das sich im 13.Jahrhundert abgespielt hat; aber ich bin völlig sicher, daß wir nicht von etwas getötet werden können, das sich im 13.Jahrhundert nie ereignet hat, das sich überhaupt nie ereignet hat.«

»Fein«, sagte Tarrant, »es ist erfrischend, einem Priester zu begegnen, der dem Übernatürlichen so skeptisch gegenübersteht.«

»Durchaus nicht«, erwiderte der Priester gelassen; »ich zweifle nicht an der übernatürlichen Seite der Sache. Aber an der natürlichen. Ich befinde mich genau in der Lage des Mannes, der sagte: >Ich kann an das Unmögliche glauben, aber nicht an das Unwahrscheinliche.«

»Das würden Sie ja wohl ein Paradox nennen, oder?« fragte der andere.

»Das würde ich gesunden Menschenverstand nennen, richtig verstanden«, erwiderte Father Brown. »Es ist viel natürlicher, eine übernatürliche Geschichte zu glauben, die für uns unverständliche Dinge behandelt, als eine natürliche Geschichte, die uns verständlichen Dingen widerspricht. Wenn Sie mir erzählen, daß den großen Gladstone in seiner letzten Stunde der Geist Parnells heimsuchte, werde ich mich agnostisch verhalten. Wenn Sie mir aber erzählen, daß Gladstone, als er zum ersten Mal der Königin Viktoria vorgestellt wurde, in ihrem Boudoir den Hut aufbehielt, ihr aufdie Schulter klopfte und ihr eine Zigarre anbot, dann werde ich mich alles andere als agnostisch verhalten. Das wäre nicht unmöglich; sondern nur unglaublich. Und doch bin ich sehr viel sicherer, daß es nicht geschehen ist, als daß Parnells Geist nicht erschienen wäre; weil es die Gesetze der Welt verletzt, die ich verstehe. So ist das auch mit der Geschichte vom Fluch. Nicht die Legende glaube ich nicht - sondern die Geschichte.«   - G. K. Chesterton, Der Fluch des Goldenen Kreuzes. In: G.K.C., Father Browns Ungläubigkeit. Zürich 1991

 

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