Menschenschlange  Als erstes erkannte sie eine gewundene Vereinigung von Marschierern, eine träge Menschenschlange kroch ihr entgegen. Die Prozession, in Zweierreihe gebildet von einigen Dutzend Männern und Frauen, wurde angeführt von einem dickwanstigen Bauarbeiter-König und seiner jungen, derben Frau, auf die sich der schwere und betrunkene Machtmensch stützte, während er seine Wanderung in schlangelndem Kurs fortsetzte. Den beiden an der Spitze folgte in gegliedertem Zug das kleine Volk, das, wie sein schlaffer Gesang verriet, aus seiner >Ödnis< herausgeführt werden wollte. Die Menschenschlange war in enge Gruppen und Kasten unterteilt, obgleich sich hierbei keine deutliche Rangfolge abzeichnete, denn es schlössen die Physiker hinter den Köchen auf, es folgten die Busfahrer und -fahrerinnen den Datenverarbeitern, den Kämmerern die Kneipenwirte und denen die Makler, die Müllmänner, die Animateure und viele, viele andere, bis endlich die hübschen, nichtsnutzigen Fotomodelle den Abschluß der wohlgeordneten Gesellschaft bildeten. Der Obmann oder die Obfrau jeder Sektion trug auf der Schulter einen rückgewandten Lautsprecher, durch den das heisere Erlösensgeflüster des Bauarbeiterkönigs bis zum hintersten seiner Gefolgsleute übertragen wurde. Hin und wieder spritzte aus einer Gruppe ein Einzelner hervor und lief zu einer anderen über, die weiter vorn oder auch weiter hinten marschierte. War aber das entlaufene Fotomodell erst einmal zum Clan der Busfahrer gestoßen, hatte es sich gehorsam einzugliedern und an die dort geltenden Sitten und Sorgen anzupassen. Erst wenn es durch und durch die echte Busfahrerschaft angenommen hatte, durfte es weiter voraus- oder in seine alte Gemeinschaft zurückspringen. Einmal in die Fremdgruppe eingedrungen, wurde der Wechsler, auch wenn er vorher ausgesprochen friedliebend war, sofort zum Streithansel. Immer entstand um ihn herum Zank und Gezeter, und er wurde so lange unsanft behandelt, bis er sich fügte. So herrschte an den Flanken des Zugs viel Bewegung und Unruhe, während im ganzen die Kolonne sich in gefestigter Ordnung dahin-wand. Denn auch der Kopf der Menschenschlange, der auf seine Frau gestützte Bauarbeiterkönig, schien trotz Schlagseite und Rausch weder an Ansehen noch an Führungskraft verloren zu haben. Jedoch, wenige Meter von der Schranke entfernt, hinter der die Kauffrau den befremdlichen Umzug beobachtete, legte der König plötzlich das Kinn in den Wind, verharrte einen Augenblick in tiefer Benommenheit und drehte sich mit dem nächsten Schritt über die linke Schulter zur Seite, um nun gewaltsam die Richtung zu ändern. Daraufhin begann sich die Schlange zu ringeln, sie rollte sich in einer großen Innenwendung zusammen, so daß schließlich ihr Kopf hinter ihre Schwanzspitze gelangte. Im nächsten Augenblick begann nun das grausamste und widernatürlichste Schauspiel, das den nüchternen Augen der Geschäftsfrau je dargeboten wurde. Die Schlange fraß sich von ihrem Ende her Stück um Stück selber auf. Der Bauarbeiterkönig, offenbar von einem bösen Verdacht, von unstillbarem Mißtrauen angetrieben, fiel seiner hintersten Kaste in den Rücken und machte sie samt und sonders nieder. Und schon ging es weiter, schon biß sich das Tier weiter nach vorn, ergriff es eins ums andere die Organe und Gliedmaßen seines eigenen Körpers, verschlang die verblendete Majestät die geradeausschauende, treu ihm folgende Kolonne, stach und bohrte sich durch die ahnungslosen Rücken ihres kleinen Volks, bis der mörderische Argwohn - ja bis er endlich ganz vorn angelangt war und nichts mehr übrigblieb als die Führung selbst, hinter ihr aber nur Blut und Zerfall. Da spaltete sich auch das Haupt der Schlange und ein Auge blickte scheel und mißtrauisch in das andere, denn nun standen König und Königin einander mit blutigen Waffen gegenüber.   - Botho Strauß, Der junge Mann. München 1984
 

Prozession Gruppe

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VB
GruppeSchlange

 

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