enschenkunde
Rübezahls erster Versuch das Studium der Menschenkunde zu treiben,
konnt ihn unmöglich zur Menschenliebe erwärmen; er kehrte mit Verdruß auf
seine Felsenzinne zurück, überschauete von da die lachenden Gefilde, welche
die menschliche Industrie verschönert hatte; und wunderte sich, daß sie
Mutter Natur ihre Spenden an solche Bastardbrut verlieh. Demungeachtet
wagt' er noch eine Ausflucht ins Land fürs Studium der Menschheit, schlich
unsichtbar herab ins Tal, und lauscht' in Busch und Hecken. Da stund vor
ihm die Gestalt eines reizvollen Mädchens, lieblich
anzuschauen, wie die Mediceische Venus und auch
ohn alle Draperie; denn sie stieg eben ins Bad. Rings um sie hatten sich
ihre Gespielinnen ins Gras gelagert an einen Wasserfall, der seine Silberflut
in ein kunstloses Becken goß, scherzten und koseten mit ihrer Gebieterin
in unschuldsvoller Fröhlichkeit. Dieser lüsterne Anblick wirkte so wundersam
auf den lauschenden Berggeist, daß er schier seiner geistigen Natur und
Eigenschaft vergaß, sich das Los der Sterblichkeit wünschte, und mit eben
der Begierde, wie ehedem seine Konsorten in der ersten Welt, nach den Töchtern
der Menschen sähe. Aber die Organen der Geister
sind so fein, daß sie keinen festen und bleibenden Eindruck annehmen; der
Gnome fand, daß es ihm an Körper gebrach, das Bild der badenden Schöne
durch die verfinsterte Kammer des Auges aufzufassen, und in seiner Imagination
zu fixieren. Deshalb verwandelte er sich in einen schwarzen Golkraben und
schwang sich auf einen hohen Eschenbaum, der das Bad überschattete, des
anmutsvollen Schauspiels zu genießen. Doch dieser Fund war nicht zum besten
ausgedacht: er sah alles mit Rabenaugen und empfand als Rabe; ein Nest
Waldmäuse hatte jetzt für ihn mehr Anziehendes als die badende Nymphe:
denn die Seele wirkt in ihrem Denken und Wollen
nie anders, als in Gemäßheit des Körpers der
sie umgibt. - Johann Karl August Musäus, Volksmärchen der Deutschen.
München 1976 (zuerst 1782-86)