Menschen, bessere   GRYLLOS.  Bei der Seele ist es wie bei dem Ackerboden: das ist die beste, die ohne Arbeit die Tugend hervorbringt wie eine Frucht, die von selbst sprießt.
ODYSSEUS. Auch darin bin ich mit dir einig.
GRYLLOS. Damit gibst du also auch zu, daß die Seele der Tiere ihrer Natur nach besser geeignet ist, die Tugend hervorzubringen, und eine größere Vollkommenheit besitzt. Sie bedarf keiner Anleitung und keiner Lehre und läßt doch, wie ein Feld ohne Pflügen und Säen, in jedem Wesen die ihm gebührende Tugend aufsprießen und emporwachsen.
ODYSSEUS. Und an welcher Tugend hätten denn die Tiere teil, Gryllos?
GRYLLOS. An welcher hätten sie denn nicht in höherem Maße teil, als der größte Weise unter den Menschen? Überlege dir doch zunächst einmal die Tapferkeit, auf die du so stolz bist. Du schämst dich ja deiner Namen 'Wagehals' und  'Städtezerstörer' nicht. Betrogen hast du, Ruchloser, mit deinen Listen und Tücken Menschen, die den Krieg reinen, edlen Herzens führten und von Lug und Trug nichts wußten, und der Verschlagenheit hast du noch den Namen der Tugend gegeben, die doch wahrlich mit der Verschlagenheit nichts zu tun hat. Aber die Tiere kennen in Kämpfen, die sie untereinander oder gegen euch ausfechten, keine List und Verstellung; sie verteidigen sich mit offenem, freiem Mut in ihrer wahren Stärke. Kein Gesetz ruft sie, keine Anklage wegen Dienstverweigerung schreckt sie. In ihrer Natur liegt vielmehr die Furcht vor der Niederlage, und so halten sie aus bis zum Ende und bleiben unüberwunden. Denn wenn sie auch körperlich überwältigt werden, so sind sie deshalb noch nicht überwunden. Ihren Mut verlieren sie nicht, auch wenn sie im Kampf ihr Leben verlieren. Bei manchem Tier sammelt sich im Augenblick des Todes Kraft und Mut in einem Körperteil; so leistet es dem Mörder Widerstand und springt in letzter Erregung noch einmal in die Höhe, bis es schließlich einer Flamme gleich erlischt und in sich 2usammenbricht, Sie bitten nicht, sie flehen nicht um Gnade, sie gestehen ihre Niederlage nicht ein. Noch niemals hat aus Feigheit ein Löwe dem ändern, ein Pferd dem ändern gedient wie ein Mensch dem ändern, der sogar die nach der Feigheit (dedia =• deilia) benannte Sklaverei (dovlsict = douleia)freund-Hch begrüßt. Ja, wenn die Menschen erwachsene Tiere durch Schlingen oder mit List in ihre Gewalt bringen, dann verweigern sie die Nahrungsaufnahme, leiden Durst und wollen Heber sterben als sich die Knechtschaft gefallen lassen. Vögel allerdings und andere Tiere, die jung in Gefangenschaft geraten, sind in ihrer Schwachheit und Zartheit leicht zu lenken. Mit verführerischen Liebkosungen und Spielereien gelingt es, sie zu verzaubern. Durch Nahrung und Genüsse, die ihrer Natur zuwider sind, rauben die Menschen ihnen ihre Kraft, bis sie sich schließlich die Zähmung, wie ihr es nennt, sozusagen die Verweichlichung ihrer natürlichen Wildheit geduldig gefallen lassen. Gerade daraus ergibt sich also am deutlichsten, daß Mut und Tapferkeit in der Natur des Tieres begründet sind.

Daß dem Menschen aber die Tapferkeit von Natur aus fremd ist, das kannst du, mein lieber Odysseus, aus folgender Überlegung am besten entnehmen. In der Tierwelt ist die Stärke bei beiden Geschlechtern von Natur aus gleich, und das weibliche steht dem männlichen durchaus nicht nach, wenn es die Mühen um den Lebensunterhalt oder den Kampf für die Jungen gilt. Du hast ja vielleicht von dem Schwein von Kromyon gehört, das dem Theseus Schwierigkeiten  genug machte,  obwohl  es  weiblichen  Geschlechts war. Und der Sphinx, die hoch oben auf dem Felsen von Phikion saß, hätte ihre weise Geschicklichkeit, Rätsel und dunkle Reden zu ersinnen, wenig genützt, wenn sie die Kadmeer nicht an Stärke undHerzhaftigkeit übertreffen hätte. In jener Gegend soll bei Teumessos auch eine Füchsin, ein »furchtbares Ding«, und in der Nähe eine Schlange gewesen sein, die mit Apollon um die Orakelstätte von Delphi kämpfte. Euer König (Agamemnon) hat gern von dem Mann aus Sikyon die Stute Aithe als Lohn dafür genommen, daß er ihn von der Teilnahme an dem Heereszug  (nach Troja)  entband;  ein kluger Gedanke, daß er dem Feigling die ausgezeichnete, siegesbewußte Stute vorzog. Du selbst hast ja schon oft an Panthern und Löwen die Beobachtung gemacht, daß die Weibchen nicht im geringsten den Männchen an Mut und Stärke nachstehen. Aber deine Frau? Während du im Krieg bist, steht Penelope zu Hause am Feuer des Herdes und wehrt sich nicht einmal soviel wie die Schwalben gegen die Schurken, die sich an ihr und ihrem Eigenturn vergreifen wollen, und ist doch eine Spartanerin !... Jedenfalls geht aus all diesem hervor, daß die Männer nicht von Natur aus im Besitz der Tapferkeit sind; denn dann hätten die Frauen in gleicher Weise an solchem Heldensinn teil. Vielmehr beruht die Tapferkeit, die euch beseelt, auf dem Zwang der Gesetze, nicht auf freier Wahl und Entschließung; sie ist die Sklavin der Sitten, des Tadels und der Meinungen, die von außen an den Menschen herantreten, sie muß also immer erst durch Vorstellungen erweckt und gebildet werden. Ihr unterzieht euch den Mühen und Gefahren nicht, weil ihr ihnen furchtlos entgegentretet, sondern weil ihr euch vor anderen Dingen noch mehr fürchtet als vor ihnen. Es ist ja wie bei der Ruderarbeit deiner Gefährten. Wer den anderen zuvorkommen kann, stellt sich an das leichte Ruder, nicht weil er das Rudern an sich verachtete, sondern well er das schwere fürchtet und ihm aus dem Wege geht. Und wenn der Mensch ruhig Schläge duldet, um den Wunden zu entgehen, oder sich gegen einen Feind verteidigt, um sich vor Tod und Martern zu retten, so ist das keine Tapferkeit in Kampf und Abwehr, sondern feige Furcht vor Wunden und Tod. So wird es denn deutlich genug, daß eure Tapferkeit besonnene Feigheit ist und euer Mut eine Furcht, die klug genug ist, durch ein Übel dem andern zu entgehen.   - (plu)

Menschen, wirkliche

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