Mensch, wilder  Wilde Menschen wurden auf die Welt gesetzt, sie verstanden sich und ihren Weg nicht. Girolamo Cardano, ein Arzt, in Pavia geboren, hielt es für das allerseltsamste Ereignis, daß er in dem Jahrhundert geboren wurde, in dem der Erdkreis bekannt wurde. Er fühlte die Macht, die gewaltiger als ein Erdbeben den Boden erschütterte. Er trug seinen Kopf auf einem langen dünnen Hals, seine Stimme war laut und scheltend, seine eine Hand, die linke, war schön, die rechte unförmig. Er diente lange Jahre mißachtet bei seinem Vater, einem Advokaten. Sein Herz war kalt, sein Kopf heiß. Als er eine schöne Frau heiratete, brachte sie ihm drei Kinder, die Tochter blieb unfruchtbar, dem ältesten Sohn schlug man den Kopf als Giftmörder ab, der jüngere wurde als Verbrecher ins Gefängnis geworfen. Cardano rang um tausend Dinge: ihn kümmerten die Gleichungen dritten Grades, er versuchte, die Luft zu wiegen, studierte das Kreuzgelenk. Er machte Bluttransfusionen und wollte so Menschen verändern, um ihren Charakter zu beeinflussen, die Mischung der Stoffe im Körper bestimmt die Eigenschaften. Dann sagte er: «Die Veränderungen in der Natur folgen dem Gesetz der Zahl, dem Gott sein Werk unterworfen hat. Alle Wesen sind beseelt, auch in den Pflanzen waltet Liebe und Haß.» Es gab damals keine Menschen, die das verstanden, was er so von sich gab, es sei denn im Neuen Indien, unter den Dunklen. «Der Mensch ist kein Tier, sondern alle Tiere, das gesamte tierische Leben auf höchster Stufe, und die Natur schafft oft neue Arten, die wieder untergehen, wenn sie sich nicht halten können.» Ein Dämon geleitete den Mann, die Inquisition faßte ihn, als er siebzig war, man ließ ihn aus dem Kerker, er durfte nicht mehr lehren. Er unterwarf sich, denn was gab es in der Welt, woran er sich halten sollte.   - Alfred Döblin, Amazonas. Romantrilogie. München 1991 (entst. 1935-37)
 
 

Menschen, wirkliche Wildheit

 

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