einung,
öffentliche Die öffentliche Meinung hat Talleyrand
zuerst erkannt und ihr von 1789 bis 1838 glaubend gedient. Deshalb ist er, der
im Dictionnaire der Wetterfahnen schon 1817 den Vogel abschoß, mit seinen mindestens
zehn verschiedenen politischen Überzeugungen der Spekulant der Großmacht geworden,
die sogar nach Bismarcks Zugeständnis im 19. Jahrhundert herrschen sollte:
der öffentlichen Meinung. Talleyrand verkörpert den neuen Kult als sein erfolgreichster
Priester. — Die öffentliche Meinung geht wie die Börsenkurse von einer Sensation
zur nächsten fort. Die Ministerkrisen sind deshalb die öffentliche Meinung in
Permanenz, denn diese Meinung ist treulos. Plus ça change, plus c'est la
même chose. - Eugen Rosenstock-Huessy, nach: Margret Boveri, Der Verrat im 20. Jahrhundert.
Bd 1. Reinbek bei Hamburg 1956 (rde 23)
Meinung,
öffentliche (2) Das Ereignis »verwenden«
- irgendein beliebiges Ereignis, das der übelwollende Zeus, der über den
Wolken schwebt, dir vor die Nase pladdert, plaff, plaff - zur Verherrlichung
der eigenen pseudo-ethischen Aktivität benützen, um sich mit allen Registern
einer schmutzigen Theatralik in Szene zu setzen, das ist das Spiel aller,
Personen oder Institutionen, die in den Gewässern der Tiefe und Ernsthaftigkeit
einer moralischen Aktivität gern im trüben fischen. Die Psyche des politischen
Kretins (Narzißmus mit pseudo-ethischem Gehalt) ergreift das fremde Delikt,
sei es realer oder eingebildeter Natur, und geifert darüber wie ein feiges,
wütendes Tier in kalter Wut über dem Aas eines Esels: und bereinigt (vermindert)
auf diese Weise zum harmlosen Ablauf eines rächerischen Mythos jene verwerfliche
Lust, die ihn zum Pragma zwang: zu welchem Pragma auch immer, es genügte,
daß es ein Pragma sei, zum Pragma coûte que coûte. Das fremde Verbrechen
wird »benützt«, um die Megäre mit der blutigen Mähne zu Besänftigen, die
wahnsinnige Volksmenge, die sich doch nicht von so Geringem besänftigen
läßt: es wird ihr vorgeworfen, wie eine Ziege oder ein Rehkitz zum Zerfleischen,
den Lefzen, die es zu Stücken reißen, den springenden Bestien und den allgegenwärtigen
und gierenden Menaden des Bacchanals, das sich an ihren Schreien erhitzt
und sich von ihrer Qual und ihrem Blute purpurn färbt: und einen legalen
Verlauf einnimmt, auf diese Weise, eine Pseudo-Justiz, eine Pseudo-Strenge,
oder eine Pseudo-Berechtigung zum Urteilsspruch: als deren Beleg die Anmaßung
der rücksichtslosen Untersuchungsweise und der provozierte Orgasmus des
vorausgenommenen Urteils sich dann kundtun. - Carlo Emilio Gadda, Die gräßliche Bescherung
in der Via Merulana. München 1988
Meinung,
öffentliche (3) Mit Leichtigkeit läßt
sich nachweisen, daß sich die Fahndungserfolge nicht bestens ausgebildeten Schnüfflern
und neusten Untersuchungsmethoden verdanken, sondern allein der Unfähigkeit
der Täter, außerhalb der öffentlichen Meinung zu existieren. Die Täter gieren
nach Anerkennung, und genau das ist ihr Fehler. Nur deshalb scheitern sie. Anstatt
ihre Sache durchzuziehen, wollen sie auch noch im richtigen Licht erscheinen.
Sie fangen an, sich zu rechtfertigen, lassen sich auf die Spielchen der Beamten
ein, beginnen einen Dialog mit der Presse und liefern sich so selbst ans Messer.
Gut, es gibt ein paar ganz Clevere, die drehen das Ganze um, machen alles öffentlich,
bemühen sich gar nicht darum, im Geheimen zu agieren. Da wird schon die Flucht
im weißen Bronco auf allen Sendern übertragen, und gerade weil alles so klar
erscheint, unterläuft denen garantiert ein Verfahrensfehler und bringt die ganze
Sache zum Kippen. Aber für so etwas braucht man Nerven. Und einen Namen. Das
schafft einer von tausend, was sage ich: zehntausend. Um die öffentliche Meinung
darfst du dich aber auch hier nicht scheren. Schließlich bringst du den Rest
deiner Tage als Außenseiter zu, abgestempelt. Denn die öffentliche Meinung weiß
es natürlich besser. Die öffentliche Meinung verbreitet immer nur Dinge, von
denen sie nicht die geringste Ahnung hat. Verbrechen, Sex, Gewalt, Drogen, Reichtum,
Ruhm. Das sind die Themen, um die sich die öffentliche Meinung wie ein angeleinter
Hofhund dreht. Immer muß es etwas zu enträtseln geben, muß man hinter die Strukturen
der Dinge kommen, den Grund aufspüren, warum jemand reich, aber unglücklich
ist, berühmt, aber dann doch recht früh ins Gras beißt. Das ist das Fliegenpapier
der öffentlichen Meinung, an dem sie alle kleben. Dabei gibt es die Strukturen
nicht, sind die Kategorien alle eine Erfindung derjenigen, die vorgeben, sie
zu entschlüsseln. Das ist das Pfund, mit dem sie wuchern, nur weil sie spätestens
nach Feierabend alle wieder zurückkriechen wollen, in die lobotomisierte Gedankenfreiheit
der Kategorien von Familie, Gefängnis, Fitness-Studio, Gesangsverein oder konspirative
Vereinigung. -
(rev)
Meinung,
öffentliche (4) Mir war bewußt, daß ich es mit
einer elementaren Welt zu tun hatte, aber die Gutgläubigkeit, mit der gerade
unbedarfte Menschen an diese Welt herangehen, hat mich, vor allem im Vergleich
mit der Schäbigkeit der öffentlichen Sichtweise, wie sie sich in Berichten über
die Welt im allgemeinen darstellt, immer in Staunen versetzt. Verglichen mit
dem, was ich täglich in meiner Arztpraxis zu sehen bekomme, ist die öffentliche
Meinung, die das Verhalten so vieler Menschen beeinflußt, eine sehr verkommene
Angelegenheit. Ich möchte beinahe sagen, was in den meisten Fällen die Unterscheidung
zwischen Heuchelei und einer befriedigenden gedanklichen Grundlage so schwierig
macht, ist der Konflikt zwischen öffentlicher Meinung vom Leben meiner Patienten
und dem, was sich meinen Augen darbietet. -
(wcwa)
Meinung,
öffentliche (5) Sorglos stand ich in einem kunstreichen
Garten an einem runden Beet, welches mit einem Chaos der herrlichsten Blumen,
ausländischen und inländischen, prangte. Ich sog den würzigen Duft ein und ergötzte
mich an den bunten Farben: aber plötzlich sprang ein häßliches Untier mitten
aus den Blumen hervor. Es schien geschwollen von Gift, die durchsichtige Haut
spielte in allen Farben und man sah die Eingeweide sich winden wie Gewürme.
Es war groß genug, um Furcht einzuflößen; dabei öffnete es Krebsscheren nach
allen Seiten rund um den ganzen Leib; bald hüpfte es wie ein Frosch, dann kroch
es wieder mit ekelhafter Beweglichkeit auf einer unzähligen Menge kleiner Füße.
Mit Entsetzen wandte ich mich weg: da es mich aber verfolgen wollte, faßte ich
Mut, warf es mit einem kräftigen Stoß auf den Rücken, und sogleich schien es
mir nichts als ein gemeiner Frosch. Ich erstaunte
nicht wenig, und noch mehr, da plötzlich jemand ganz dicht hinter mir sagte:
»Das ist die Öffentliche Meinung, und ich bin der Witz;
deine falschen Freunde jene Blumen sind schon alle welk.« - Friedrich Schlegel, Lucinde. Berlin u.a. 1980 (zuerst 1799)
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