ehlwurm
In tierischen und pflanzlichen Genomen gibt es, wie sich herausgestellt
hat, Meutereien. In einigen weiblichen Mehlwürmern existiert ein Gen namens
Medea, das dafür sorgt, daß nur Nachkommen überleben, in denen es vorhanden
ist: Als lockte das Gen alle Nachkommen des Weibchens in eine Falle, aus der
nur jene freikommen, die es in sich tragen. Es gibt komplett egoistische Chromosomen,
sogenannte B-Chromosomen, die nichts anderes tun, als ihre eigene Weitergabe
an die nächste Generation zu sichern. Sie dringen in jedes Ei eines Insekts
ein. Ein anderes Insekt, eine Schildlaus, ist Sitz eines noch seltsameren genetischen
Parasiten. Wenn die Eier der Schildlaus befruchtet werden, kann es vorkommen,
daß mehr als ein Spermium ins Ei eindringt. Dann verschmilzt das eine Spermium
auf ganz normale Weise mit dem Ei-Kern, während sich das andere Spermium in
der Zelle herumlümmelt und bei jeder Teilung der Eizelle ebenfalls teilt. Wenn
die Schildlaus heranreift, frißt das parasitische Spermium deren Keimzellen
und ersetzt sie durch Kopien seiner selbst. Das Insekt produziert also Spermien
und Eier, die mit ihm selbst überhaupt nicht mehr verwandt sind, ein verblüffendes
Beispiel für genetischen Betrug.
- Matt Ridley,
Eros und Evolution. Die Naturgeschichte der Sexualität. München 1995 (zuerst
1993)
Mehlwurm (2) Der Müller Anton Matern lauscht mit plattem Ohr in die Zukunft. Der schiefe Müller weiß wichtige Daten im voraus. Sein anliegendes Ohr, das alltäglichem Geräusch gegenüber taub zu sein scheint, hört Weisungen, nach denen sich die Zukunft lenken läßt. Dabei kein Tischrücken, Kartenlegen, Kaffeesatzrühren. Nicht, daß er vom Sackboden aus ein Fernrohr gegen die Sterne richtet. Kein Aufdröseln vielsagend verlaufender Handlinien. Weder in Igelherzen und Fuchsmilzen noch in den Nieren eines rotbles-sigen Kalbes wird herumgestochert. Wer es noch nicht weiß: das Zwan-zigpfundsäckchen ist so allwissend. Genauer gesagt, Mehlwürmer, die im Mehl, gemahlen aus Eppscher Sorte, die Fahrt auf dem Fährprahm, den raschen Untergang des Torpedobootes, kurz, Kriegs- und Nach-kriegswirren zuerst mit Gottes, zuletzt mit Goldmäulchens Hilfe überlebt haben, flüstern im voraus, und des Müllers plattes Ohr - zehntausend und mehr Zentnersäcke Urtobaweizen, Eppscher Weizen, Weizenmehl aus Schliephackes Sorte Numero fünf gemahlen, haben es so platt, taub und hellhörig werden lassen - vernimmt, was die Zukunft zu bieten hat und gibt der Mehlwürmer Weisungen - der Müller spricht's aus - an Ratsuchende weiter. Gegen angemessenes Honorar lenkt der Müller Anton Matern mit Hilfe des ostdeutschen Gewünns westdeutsche Geschicke wesentlich; wenn wie, nach den Bauern und Kleinindustriellen, Hamburgs zukünftige Presselords seinem Lehnsessel gegenüber Platz nehmen und ihr Begehren auf ein Schiefertäfelchen schreiben, beginnt er Einfluß zu nehmen: richtungweisend meinungsbildend weltbedeutend zeitbestimmend inbildernredend allgemein spiegelverkehrt.
Nachdem der Müller jahrzehntelang im heimatlichen Nickelswalde Ratschläge erteilt, nachdem er zwischen Neuteich und Bohnsack nach Mehlwurmweisungen den heimischen Weizenanbau beeinflußt und rentabel gemacht, nachdem er, mit plattem Ohr am mehlwurrnbewohnten Sack, Mäuseplage und Hagelschlag, die freistädtische Guldenabwertung und Kursstürze auf der Getreidebörse, die Sterbesrunde des Reichspräsidenten und den unheilgeladenen Flottenbesuch im Danziger Hafen vorausgesagt hat, gelingt ihm, mit Goldmäulchens Unterstützung, der Sprung aus provinzieller Enge in westdeutsche Weitläufigkeit: drei Herren fahren in einem Besatzungsjeep vor. Jung und deshalb unbescholten, nehmen sie mit zweieinhalb Sprüngen die Treppe zum Mehlboden, bringen Lärm, Begabung und Unwissenheit mit, beklopfen den Hausbaum, mühen sich mit der Seiltrommel ab, wollen partout auf den Sackboden steigen und sich im Mahlganggetriebe die Finger schmutzig machen; aber das Schildchen «Privat!» am Geländer der Sackbodentreppe erlaubt ihnen, gute Kinderstube zu beweisen; und so beruhigen sie sich schulbubenhaft dem Müller Matern gegenüber, der auf die Schiefertafel und den Griffel weist, damit Wünsche formuliert und erfüllbar werden.
Es mag nüchtern klingen, was die Mehlwürmer den drei
Herren zu sagen haben: dem hübschesten wird nahegelegt, sich britischer
Macht gegenüber auf die Zeitungslizenz Numero siebenundsechzig zu
versteifen, damit sie unter dem Namen «Hör Zu» zu Auflagen kommen mag
und - nebenbei bemerkt - für den Müller Matern ein Gratisabonnement
abwirft; denn der Müller ist illustriertenversessen und radioselig. Die
Lizenz Numero sechs, auf Rat der Würmer «Die Zeit» genannt, wird dem
agilsten der Herren angeraten. Dem kleinsten und feinsten Herrchen aber,
das verschüchtert an den Fingernägeln kaut und gar nicht vortreten mag,
flüstern die Mehlwürmer über den Müller zu, er möge es mit der Lizenz
hundertdreiundzwanzig versuchen und sein verunglücktes Experiment, «Die
Woche» genannt, fallenlassen.
Der glatte Springer klopft dem weltfremden Rudi die Schulter: «Frag mal den Opa, wie Dein Kindchen heißen soll.»
Sogleich lassen die blinden Mehlwürmer durch den
schiefen Müller ausrichten: «Der Spiegel», dem kein Pickel auf glatter
Stirn entgehe, gehöre in jeden modernen Haushalt, Voraussetzung, konkav
geschliffen müsse er sein; was sich leicht lese, lasse sich auch leicht
vergessen und dennoch zitieren; nicht immer komme es auf die Wahrheit
an, aber die Hausnummer müsse stimmen; kurzum, ein gutes Archiv, also
zehntausend und mehr wohlgefüllte Leitzordner, ersetze das Denken; «die
Leute wollen», so sagen die Mehlwürmer, «nicht zum Grübeln angeregt,
sondern genau unterrichtet werden». - (hundej)
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