Meereskinder  Sie senkten den Kopf und weinten alle bitterlich, als sie an die Heimat zurückdachten, welche die Dunkelheit verborgen hielt, an ihre Häuser, Verwandtschaft, Freunde, denen sie nicht einmal mehr Lebewohl hatten sagen können und die sie nie wiedersehen sollten. Doch Longa Poa sang weiter und saß auf dem Deckshaus. Er sang ein anderes Lied, mit lauter Stimme sang er ernst ein Kampflied. Das scholl über die Wasser und übertönte das Weinen und Seufzen; es erzählte, wie in alten Zeiten sein Stamm die gewaltige Feste Wawau genommen hatte. Da währte es nicht lange, und die jungen Leute hoben wieder die Köpfe. Ihr Weinen hatte ein Ende, ihr Mut wuchs, als sie den Worten lauschten, und als der Häuptling zu dem Triumphgesang kam, den die Väter nach dem Siege sangen, da ermannten sie sich; sie ließen den Kriegsruf erdröhnen, und stimmten in den Leib und Seele erschütternden Gesang ein, welcher ›Das Lied vom Tode‹ benannt ist.

Kanu

So segelten sie die Nacht und den ganzen folgenden Tag hindurch. Sie kamen an einer Insel nach der andern in der Gruppe vorüber, bis schließlich auch Niue hinter ihnen in den Wassern versank. Nun sahen sie viele Tage lang kein Land mehr, und die Mannschaft sagte zueinander: »Wir sind über die Grenzen der Erde hinausgefahren. Hier gibt es nur noch Wasser.« Und trotzdem kamen sie in andere Länder; sie segelten unaufhörlich, und das Boot wurde ihr Haus und die See ihr Land. Sie waren es auch ganz zufrieden, nicht mehr ruhig auf dem festen Lande zu leben; schon nach wenigen Tagen sehnten sie sich immer nach der Weiterfahrt. Sie waren rechte Meereskinder geworden.

Doch es würde zu lange dauern, wollte ich all die gewaltigen Taten erzählen, die sie in den vielen Ländern vollbrachten, wohin der Wind sie trug: die vielen Kämpfe und Feste, und all den Hunger und Durst und die Mühseligkeiten, welche sie durchmachten. Wie Moala, der Spielmann, heimtückisch am Strand einer Insel erschlagen wurde, die einsam aus dem Meer emporragt; ein Speer wurde ihm durch den Rücken gejagt, als er Feuerholz einsammelte, wie Longa Poa darauf das ganze Volk, Männer, Frauen und Kinder austilgte, und nicht einen am Leben ließ, so daß dies Land bis heute noch ohne Menschen ist. Wie Pulu Fonua vergaß, weil er sich in ein junges Mädchen vergaffte, die ihn betörte, sich doch in den Mangroven zu verbergen, wenn seine Gefährten abfuhren, und ihr Mann zu werden; und wie sie ihn in derselben Nacht noch, als er schlief, ermordete und den Leichnam an ihre Freunde verschacherte. Wie Longa Poa, als er am andern Morgen Pulu suchte, sah, wie ihre Sippschaft seinen Leichnam verspeiste und seinen Kopf mitten auf dem Dorfplatz auf einen Speer gesteckt hatte. Wie dann die Tonganer ihren Kriegsruf ausstießen, angriffen und unter den Dorfbewohnern ein fürchterliches Blutbad anrichteten, und bis auf wenige, die in die Berge entflohen und so sich retten konnten, niemanden am Leben ließen. Wie sie darauf viele Tage umhersegelten, schließlich vor Hunger verzweifelten und mit dem Boot auf einen schlafenden Wal gerieten, auf ihn hinaufkletterten, ihm mit ihren Speeren zusetzten, mit ihm kämpften und ihn schließlich töteten. Wie sie alsdann vor Stolz übermütig wurden und sagten: »Wir sind Götter! Wir sind Götter! Kein Menschenkind kann solch gewaltige Taten vollbringen, wie wir es taten.« Und wie die Götter es hörten und sehr unzufrieden wurden und beratschlagten, wie sie die Übermütigen schlagen sollten. Das ist alles viel zu lang, als daß man es erzählen könnte.   - Südsee-Märchen. Hg. Paul Hambruch. Köln Düsseldorf 1979 (Diederichs, Märchen der Weltliteratur)

Meereskinder (2)
 

Meer Kind

 

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