Medienstar  Das Schwein wurde in kürzester Zeit zum Medienstar. Zunächst war in der Gratiszeitung Metro nur ein kurzer Bericht darüber erschienen, dass einige Passanten in Sainte-Catherine ein frei herumlaufendes Schwein gesehen haben wollten. Der Artikel war in ironischem Ton verfasst, so als ginge es um die angebliche Sichtung eines UFOs, illustriert war der Artikel mit dem Archivfoto irgendeines herzigen Ferkels, untertitelt war es mit dem Satz: »Wer kennt dieses Schwein?« Daraufhin riefen immer mehr Menschen bei der Redaktion an oder schrieben E-Mails, dass sie dem Schwein ebenfalls begegnet waren, und beschwerten sich, dass sie dies auch der Polizei gemeldet hätten, ihre Wahrnehmung von der Polizei aber nicht ernst genommen worden sei, und dass der Ton des Artikels und die Illustration eine Verharmlosung und eine Täuschung der Öffentlichkeit darstellten, da es sich um ein viel größeres und aggressives Tier gehandelt habe, vielleicht ein Wildschwein, jedenfalls eine öffentliche Gefahr. Metro erkannte nun das Potential dieser Geschichte und setzte mit einer Titelgeschichte nach. Sie hatten Bewohner von Sainte-Catherine befragt, »besorgte Bürger«, die sich im Stich gelassen fühlten und nicht wussten, ob sie ihre Kinder noch unbe-gleitet zur Schule gehen lassen oder ob Frauen noch alleine ausgehen konnten, solange eine womöglich tollwütige Wildsau auf den Straßen ihr Unwesen trieb. Eine Madame Eloise Fourier fragte an der Metro-Redaktion an, ob ein Pfefferspray zur Verteidigung gegen Wildschweine empfehlenswert wäre, was Professor Kurt van der Koot, Professor an der Vrije Uni-versiteit Brüssel, auf Nachfrage von Metro verneinte. Ein Pfefferspray konnte die Unberechenbarkeit einer Sus scrofa, so der Fachterminus, nur vergrößern. Pfeffer, wie übrigens auch Salz und Kümmel, sei daher nur für Schweinebraten zu empfehlen. Dieser schlechte Witz des Professors, der bis dahin einer größeren Öffentlichkeit unbekannt gewesen war und der, wie man dann erfuhr, als Verhaltensforscher Spezialist für Wölfe war, löste einen Shitstorm in den sozialen Medien aus, der dazu führte, dass der Funke nun auf andere Zeitungen übersprang. Die Zeitung Le Soir brachte ein Interview mit dem Polizeichef des Kommissariats Centre Ville, einem Flamen, der schon die längste Zeit auf der Abschussliste der Zeitung stand. Dabei verband sich der Wunsch der Zeitung, diesen Mann hinzurichten, mit dessen Naivität, mit der er Harakiri beging (»Welche Vorkehrungen haben Sie getroffen?« »Ich habe den städtischen Hundefängern Anweisung gegeben, dieses Schwein, wenn sie ansichtig werden, es dingfest zu nehmen.« »Wieso den Hundefängern?« »Wir haben viele streunende Hunde. Deshalb hat die Stadt Hundefänger. Aber wir haben kein Schweinefänger.« Dazu merkte die Zeitung an: »Der Plan ist so perfekt wie sein Französisch.«) Immer mehr Augenzeugen meldeten sich, De Morgen brachte nun jeden Tag einen Stadtplan von Brüssel-Region, auf dem mit Fähnchen graphisch markiert wurde, wo und wann das Schwein wieder gesehen worden war. Dabei fiel schließlich auf, dass das Schwein mittlerweile omnipräsent war. So wurde es zum Beispiel an einem Tag in Anderlecht, kurz darauf in Uccla und dann schon wieder in Molenbeek gesichtet.

Professor Kurt van der Koot, bemüht, seinen Ruf wiederherzustellen, veröffentlichte in De Morgen einen betont sachlichen Kommentar, in dem er die Höchstgeschwindigkeit, die ein Schwein im vollen Lauf erreichen könne, mit den Distanzen, die es zurückgelegt haben musste, in Beziehung setzte und somit nachwies, dass es rein empirisch nur zwei Möglichkeiten gebe: entweder, These eins, es handle sich nicht um bloß ein Schwein, sondern es müsse mehrere geben. Denn gemäß Weg-Zeit-Diagramm sei es gänzlich unmöglich, dass ein einzelnes Schwein überall dort gewesen sein könne, wo es Augenzeugen gesehen haben wollen. Oder aber, These zwei, es gebe überhaupt kein Schwein, sondern nur die Fiktion eines Schweins.  - Robert Menasse, Die Hauptstadt. Berlin 2017

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