Mathesis  Malfatti gründete sein kleines, schwieriges Werk auf das Studium der durch die Romantik entdeckten Urkunden der alten Inder, von denen ja auch die sogenannten arabischen Ziffern ausgegangen sind und die er im Besitz einer göttlichen Ur- und All-Wissenschaft, der Mathesis, glaubte. Dieses »mystische Organon« wurde entzweit in Mathematik und Metaphysik, die, der lebendigen Mitte verlustig, uns gewissermaßen Steine statt Brot reichen, uns nie das Ganze anschauen lassen, sondern Bruchstücke liefern, die wir zusammensetzen müssen.

Vor jeder Zahl, den neutralen Punkt zwischen Mathematik und Metaphysik bezeichnend, steht die Zero oder Null, eigentlich nichts und Alles bedeutend, die Form der reinen Ellipse, deren Entwicklung in Zeit und Raum die mathematischen Zahlen sind. Das, was man den methaphysischen Inhalt der Zahlensymbole nennen könnte, ist die Offenbarung des Gottes, des Brahm, der sich erstlich als Dreieinigkeit, Trimurti, und zweitens in sieben göttlichen Mächten offenbart, womit die Dekas abgeschlossen ist. Die Zahl-Bilder selbst sind abgekürzte geometrische Formen aus Symbolen der Götter oder des Weltlebens.

Es ergeben sich eine arithmetische und eine geometrische Grund-Größe: die Dreieinigkeit und die Ellipse. Die Dreieinigkeit, Gottes erste Offenbarung, ist »die metaphysische Evidenz, die allgemeine Form des Daseins, der Stempel der Gottheit«. Die Ellipse ist » die Grundhieroglyphe der hierarchischen Mathesis, nicht bloß eine menschliche, sondern eine Weithieroglyphe«, die Hieroglyphe der Schöpfung. »In der Erscheinung drückt sich das Geheimnis des Lebens als Dreieinigkeit aus, in der Existenz das Wunder des Lebens als Ellipse.« Während der Kreis den Indern das Symbol des vorgenetischen Lebens, des in sich ruhenden Gottes war, war die Ellipse das Symbol des Weltlebens, das werdend ist. Wo immer Leben, Werden, Bewegung ist, da finden wir elliptische Form und elliptische Bahn: stellt sich doch das Sonnensystem selbst, das » nach dem großen Gesetz der Einheit vor den, Augen der Sterblichen sich hinwälzt«, in elliptischer Form dar. Wie die beiden Brennpunkte der Ellipse stehen sich Mann und Weib, ewig bestrebt, sich zu vereinigen und auszugleichen, stehen sich Kopf und Herz, Denken und Leiben - nach einem von Baader aus Jakob Böhme übernommenen Ausdruck - gegenüber. Wo Leben ist, ist ewig dieser Streit und diese Liebe, und wo Leben erscheint, erscheint die Form des Eies, von der Zelle an, deren stete Wiederholung den Körper bildet, bis zu der Blüte des Körpers, dem Gehirn. Der menschliche Leib läßt sich, nach Ennemoser, als aufrechtes Ellipsoid auffassen, wo Kopf und Becken die Brennpunkte bilden, und der Naturforscher Cassel bemerkt, daß die Urformen Kreis und Ellipse in allen Organismen und Organen durchschimmern, und zwar um so deutlicher, auf je niederer Stufe der Entwickelung sie sich befänden.

Die Kreisforrn steht der Ellipse einmal als die Erscheinung des Ursprünglichen, sodann als die des Vollkommenen gegenüber, demgemäß, daß der Kreis den Ursprung und das Ziel des Lebens bedeutet. So ist das Kindesgesicht rundlich und geht allmählich, wachsend und alternd, ins Oval über, wie überhaupt der Kreis das Symbol des unbewußten und ungeschlechtlichen Kindeslebens ist; aber auch den Genius zeichnet unbewußtes Schaffen und möglichst geringes Entbranntsein im Geschlecht aus, weshalb man wohl von der Kindlichkeit des Genius spricht.   - Ricarda Huch, Romantik. Blütezeit, Ausbreitung und Verfall. Tübingen 1952

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