Mathematik, sexistische  In einem  Aufsatz behauptet Luce Irigaray, die sexistischen Vorurteile im Herzen der „reinen" Mathematik zu entlarven:

-   die mathematischen Wissenschaften befassen sich, in der Mengenlehre, mit geschlossenen und offenen Räumen, mit dem unendlich Großen und dem unendlich Kleinen. Sie befassen sich sehr wenig mit der Frage des teilweise Offenen, mit Einheiten, die nicht klar abgegrenzt sind, mit jeglicher Analyse des Problems der Ränder [bords], mit der Passage dazwischen, mit Fluktuationen, die zwischen den Schwellen besonderer Einheiten auftreten. Selbst wenn die Topologie diese Fragen aufwirft, betont sie das Einschließende eher als das, was aller Kreisförmigkeit widersteht. (Irigaray 1985 Irigaray 1987.)

Irigarays Formulierungen sind vage: „des teilweise Offenen", „der Passage dazwischen", „Fluktuationen, die zwischen den Schwellen besonderer Einheiten auftreten" - wovon redet sie eigentlich? Das „Problem der Ränder" [bords] ist alles andere als vernachlässigt worden, vielmehr steht es seit deren Einführung vor einem Jahrhundert im Mittelpunkt der algebraischen Topologie, und „berandete Mannigfaltigkeiten" [varietes a bord] sind seit mindestens fünfzig Jahren Gegenstand der Differentialgeometrie. Und, nicht zuletzt, stellt sich die Frage: Was hat dies alles mit Feminismus zu tun?
Wir waren daher sehr überrascht, diesen Abschnitt in einem neueren mathematischen Lehrbuch zitiert zu finden. Die Autorin ist eine bekannte amerikanische feministische Mathematikdozentin, deren Ziel - das wir voll und ganz unterstützen -darin besteht, mehr junge Frauen für eine wissenschaftliche Karriere zu gewinnen. Sie zitiert Irigaray zustimmend und fährt dann fort:

In dem von Irigaray hergestellten Kontext wird ein Gegensatz sichtbar zwischen der linearen Zeit der mathematischen Probleme der zusammenhängenden Größenbeziehungen, der Abstandsformeln und der linearen Beschleunigung einerseits und der herrschenden Erfahrung der zyklischen Zeit der Menstruation andererseits. Ist es für den weiblichen Geist-Körper offensichtlich, daß Intervalle Endpunkte haben, daß Parabeln die Ebene sauber aufteilen und daß die lineare Mathematik des Unterrichts die Welt der Erfahrung auf eine intuitiv naheliegende Weise beschreibt?* (Damarin 1995)

Die Theorie ist, gelinde gesagt, verblüffend: Glaubt die Autorin wirklich, die Menstruation erschwere es jungen Frauen, die Grundbegriffe der Geometrie zu verstehen? Diese Sicht erinnert - und das ist unheimlich - an jene Herren aus dem 19. Jahrhundert, die meinten, Frauen seien aufgrund ihrer empfindlichen Fortpflanzungsorgane nicht für rationales Denken und Wissenschaft geeignet. Mit solchen Freunden braucht die feministische Sache eigentlich keine Feinde mehr.

Ähnliche Gedanken findet man in Irigarays eigenen Schriften, ja, sie verknüpft ihre wissenschaftlichen Irrungen mit allgemeineren und vage relativistischen philosophischen Erwägungen und zieht sie zu deren Begründung heran. Ausgehend von dem Gedanken, Wissenschaft sei „männlich", weist Irigaray „den Glauben an eine vom Subjekt unabhängige Wahrheit" [la croyance en une verité indépendante du sujet] zurück und rät Frauen,

daß sie der Existenz einer neutralen, allgemeingültigen Wissenschaft weder Folge leisten noch ihr anhängen, einer Wissenschaft, zu der die Frauen auf mühevollem Wege gelangen mußten, mit der sie sich und die anderen Frauen drangsalieren, indem sie aus der Wissenschaft ein neues Über-Ich machen. (Irigaray 1989)

* Angemerkt sei, daß das Wort „linear" in diesem Abschnitt dreimal verwendet wurde, unpassend und offensichtlich dreimal anders gemeint.

  - Alan Sokal, Jean Bricmont, Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen. München 2001

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