arktregulierung
Seit etwa einem Jahr waren Straßen und Geschäfte des Bahnhofsviertels
zwischen einem deutschen, einem albanischen und einem türkischen Boss genau
aufgeteilt, und jeder im Viertel, nicht zuletzt.die
Polizei, war über diese mühsam ausgehandelte Ordnung froh. Fast ging es wieder
so ruhig zu wie vor neun Jahren, als es noch die Gebrüder Schmitz, die unumstrittenen
Könige des Bahnhofsviertels, und eine korrupte CDU-Stadtregierung gegeben hatte,
die die Gebrüder machen ließ. Damals genehmigten oder verboten die Gebrüder
von offiziellen Bordellbetrieben bis zu illegalen Glücksspielkellern so ziemlich
alles, womit im Viertel Geld verdient wurde. Mal mit diplomatischem Geschick,
mal mit Schlägertrupps sorgten sie für einigermaßen reibungslosen Geschäftsverlauf
und kassierten von jeder verdienten Mark gerade so viele Prozente, daß die Abkassierten
nicht auf die Idee kamen, das System ernsthaft in Frage zu stellen. Es war ihnen
sogar gelungen, den seit den siebziger Jahren immer unheimlicher werdenden Drogenhandel
und -konsum auf bestimmte, am Rand des Viertels gelegene Plätze zu verbannen.
So konnten Familienväter und Geschäftsreisende ihr Vergnügen suchen, ohne von
delirierenden Halbtoten ständig daran erinnert zu werden, daß die nächtliche
Glitzerwelt mit Scharnpus, Glückssträhnen und Strapsdamen zu nicht geringem
Teil auf zerstochene Venen gebaut war. Im großen und ganzen lief es unter den
Gebrüdern Schmitz also so gut, wie es in einem Puffviertel eben laufen kann:
Die Polizei wußte, an wen sie sich nach Schießereien wenden mußte, Wirte und
Bordellbetreiber wußten, daß ihnen außer den Gebrüdern jeder den Buckel runterrutschen
konnte, die Fixer wußten, wohin sie sich zu verkrümeln hatten, und jemand wie
ich wußte, wo er morgens um drei ein Bier bekam. Doch dann wählten die Frankfurter
sich eine SPD-Regierung, der regelmäßige Geldfluß von den Gebrüdern Richtung
Rathaus wurde aufgedeckt, und es war Schluß mit dem kleinen Königreich. Die
Gebrüder verschwanden erst aus der Stadt, dann aus dem Land und hinterließen
zwischen Bankentürmen und Hauptbahnhof sieben Straßen, die wie ein unbewachter
Berg aus Gold bald bis in die hintersten Ecken Europas strahlten. Es dauerte
keinen Monat, bis die ersten Banden einfielen, einige Barbesitzer umlegten,
um sich Respekt zu verschaffen, und glaubten, das Viertel mit harter Hand regieren
zu können. Aber dafür brauchte es mehr, als Angst zu verbreiten. Die Gebrüder
hatten es geschafft, ihren Untergebenen ein Gefühl von gegenseitigem Profit
anzudrehen, als Garanten für Frieden und Einkommen zu gelten, und waren relativ
verläßlich. Wer aufmuckte, bekam eins in die Fresse, wer fleißig war, tausend
mehr aufs Konto. Außerdem kauften sie ihre Anzüge von der Stange und kannten
fast jeden im Viertel mit Vornamen. Die neuen Herren mit Maßanzügen und Brillantringen
wußten gerade mal den Namen der Stadt, in der sie sich befanden, nahmen Prozente,
wann und wie es ihnen gefiel, und wenn sie schlechte Laune hatten, Ließen sie
den erstbesten zusammenkloppen. Abmachungen galten nichts, und Verlaß war nur
auf Ärger. Nachrückende Banden hatten es von Mal zu Mal einfacher. Wenn früher
irgendwelche Gangster mit Übernahmeabsichten im Viertel aufgetaucht waren, erfuhren
die Gebrüder Schmitz innerhalb von Stunden davon und konnten auf eine Masse
von Getreuen rechnen. Jetzt warnte keiner die Machthaber, geschweige denn, daß
ihnen jemand half. Im Gegenteil, jeder war froh, wenn sie verjagt wurden. Und
so lief es sieben Jahre lang. Immer neue, immer isoliertere Bosse, die immer
schneller ihren Platz räumen mußten. Aus Deutschland, Österreich, Italien, Albanien,
Rumänien, der Türkei, Jugoslawien, Rußland, Weißrußland, und einer Handvoll
Ländern Südamerikas. Man hatte das Gefühl, im Frankfurter Bahnhofsviertel finde
eine Art Verbrecherolympiade statt. Dabeisein war alles. Manche blieben nur
so kurz am Drücker, daß sie kaum ihre Reisekosten reinbekamen. Von einem Lebensmittelhändler
wurde erzählt, er habe, uninformiert über den letzten Machtwechsel, einer Gruppe
hartgesottener Lackaffen ein freundlich gemeintes »Adios« hinterhergerufen,
woraufhin die beleidigten Letten seinen Laden zertrümmerten.
Und nun schien es, nach einem Jahr relativen Friedens, wieder unruhig zu
werden. Von den Wirten und Kellnern, die mit mir gesprochen hatten, wußte ich,
daß sämtliche Bahnhofsviertel-fürsten über die Schutzgeld-Erpressungsversüche
der "Armee der Vernunft" informiert waren und gemeinsam dagegen vorgehen
wollten. Seit zwei Tagen hatten sie an allen wichtigen Straßenecken rund um
die Uhr Posten aufgestellt. Allerdings waren die Armeeangehörigen bisher immer
so schnell aufgetaucht und verschwunden, daß der jeweilige Posten kaum Zeit
genug gehabt hatte, das Mobiltelefon aufzuklappen. Ab morgen sollte darum an
jedem Straßenabschnitt, der aus dem Viertel hinausführte, ständig ein Wagen
mit Fahrer bereitstehen, der den Weg blockieren konnte. Innerhalb weniger Minuten
sollte dann eine Art mobiles Einsatzkommando herbeistürmen und sich die stummen
Anzugträger der Armee vorknöpfen. - Jakob Arjouni, Kismet. München
2006
Marktregulierung (2)
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