ann, lächelnder  Der kleine Mann und ich, wir sind alte Bekannte. Er taucht immer erst nach einer Weile auf, erst, wenn ich so richtig in Schwung bin. Er kommt aus der Wand. Seine Haut, seine Haare und sein Anzug, alles ist aus weißem Putz. Er ist klein wie ein Kind, aber bestimmt um die Sechzig, wenn nicht älter. Wenn er sich bewegt, knirscht es ganz leicht, wie wenn Sie die beiden Hälften einer Meringe aneinanderreiben. Ein unangenehmes Geräusch. Aber es ist nicht oft zu hören, der kleine Mann ist ein ungewöhnlich stiller Zeitgenosse. Er sitzt mir gegenüber, sieht mich an, sagt kein Wort und lächelt dazu. Das Lächeln müssen sie ihm mit einer Brennschere aufgedrückt haben. Ab und zu zwinkert er.

Ich weiß, der kleine Mann ist auf meiner Seite. Er steckt nicht mit den Bewohnern des Wandschranks unter einer Decke. Trotzdem könnte ich auf seine Anwesenheit verzichten. Es ist nicht besonders unterhaltsam, einen Mann aus weißem Putz anzustarren, der kein Wort sagt und nichts als lächelt, immer nur lächelt, von einem gelegentlichen Augenzwinkern mal abgesehen.

Aber ich muß ihn anstarren. Ich muß ihn anstarren, weil ich weiß, daß das Lächeln verschwindet, wenn ich die Augen schließe. Nicht daß er dann nicht mehr auf meiner Seite wäre, das nicht, der kleine Mann, verstehen Sie, ist nicht mein Gegner. Aber er muß müde sein von dem Dauerlächeln. Seine Muskeln müssen weh tun. Wenn ich die Augen schließe, sage ich mir manchmal, könnte er sich für eine Weile ausruhen. Dann zwinkert er mir zu, als wollte er mich dazu auffordern, die Augen zu schließen. Oder er zwinkert mir nicht zu, als ob er nicht wüßte, welcher Gedankenfetzen gerade durch mein whiskygetränktes Hirn schwimmt. Und ich weiß, daß es ein Fehler wäre, die Augen zu schließen, ich weiß, daß er weiterlächeln wird, für mich, aber nur, wenn ich die Augen offenbehalte, trotz des Zigarettenqualms, von dem sie brennen, trotz meiner eigenen Müdigkeit, und ihn anstarre, immer nur anstarre. - Thorsten Tornow, Tod eines Trebers. Berlin 1999