Manifestantismus  

  Aufruf zum Manifestantismus

Ich betrete mit diesem Aufruf die sogenannte Arena der öffentlichen Meinung. Teils aus Arger, einem Gefühl höchster Ordnung, teils aus dem niedrigen Beweggrunde des Patriotismus. Weil die romanischen Völker, Italien und Frankreich, jetzt einen neuen Ruhm zu erwerben unterwegs sind, durch die epochemachende Bewegung des Futurismus. - Eine Bewegung, die, die Manifeste als Vehikel und Luftschiffe als Programm benutzend, leicht ein paar Männer verführen könnte, uns einen Präsentismus zu präsentieren, indem sie übersehen, daß die konservative Gesinnung, die den temporären Zustand einer Entwicklung für programmatisch hält, von der futuristischen Präsidialtute genau so präsentiert wird, wie sonstwo.

Ich frage, wenn ein Luftchauffeur so geistlos ist, durch seinen Apparat am Begreifen des Adjektivs gehindert zu werden, warum muß er daraus eine Theorie machen! Wenn er recht appercipiert hätte und intelligent wäre, würde er einen neuen Apparat bauen. -Dies trifft den Kern des ganzen Unfugs. Wenn die Herren wirklich ein Programm hätten, das heftig ernst genommen werden könnte, wozu müssen sie Kunst unternehmen? (wo sie die Kunst doch nicht ernst nehmen).

Es ist doch schließlich nicht wichtig, wie man die Dinge malt, sondern wie man sie sieht. Und wer nicht Gedanken von solcher Wucht ergreifen kann, daß Raum und Zeit und alle sieben Farben des Regenbogens sich auf einen Schlag ändern, ist ein Sudler, bleibt ein Sudler und mag ruhig Kunst lärmen, wenn er auch, einsichtsvoll genug, sein ganzes Werk als ephemer bezeichnet. Denn wäre der noch ein Künstler, der nicht die Kunst verachtet? Daß unsere Gegenwart etwas Berauschendes ist, wissen wir schon lange. Erst Herr Marinetti wurde so besoffen davon, daß er nicht mehr imstande war, sich in einem Museum aufzuhalten.

Daß aber dieses Erlebnis stark genug war, sich in eine Geste zu verdichten, zu Manifesten, macht ihn ehrenwert.

Denn wir können nicht verschweigen, daß wir nicht um Herrn Marinetti, sondern von dem Manifestantismus reden, das heißt, die produzierenden Köpfe sollen endlich einsehen, daß es sich nicht darum handelt, was sie tuen, sondern aus welchen Motiven und gedanklichen Konstellationen heraus! Kunst war bisher nur der Bluff, sich und andere Leute über die eigene Unanständigkeit und Gedankenträgheit hinwegzutäuschen.

Ein paar historische Betrachtungen zur Unterstützung dieser These:

Wir haben den Naturalismus erlebt, die Dekadence, den Stilismus, den Impressionismus. Und sie haben uns das Antlitz der Erde verändert. Doch warum? Wie viele haben denn die schweißigen Elaborate jener Herren wirklich zur Kenntnis genommen? Nur hie und da in dem Geschrei für und wider flackerte ein Gedanke auf, die Intention eines Gedankens, der fähig war, die Konstellation eines Menschen zu seiner Welt zu erschüttern. Wenn nur die Dumpfheit, die Unformuliertheit der ursprünglichen Werke nicht jeden Vorteil wieder in Frage gestellt hätte!

Und traumhaft glutvoll flammen wir in der neugeschaffenen Welt. Und der ISMUS ist etwas Berechtigtes, vielleicht das einzig berechtigte von allem, was gedacht werden kann. Denn diese Endung bedeutet die panische Besitzergreifung der Welt durch einen Gedanken. Und es ist doch lächerlich, daß man sagen muß, daß ein wirklich gefaßter Gedanke unsere Empfindungen und Funktionen beeinflußt. Und um so stärker, je genauer er formuliert ist. Und ein Manifestantist wird in jeder Bewegung eines alten Weibes tausendmal mehr Wunder sehen als die erschrockensten Romantiker, weil er die geheime Logik ihrer Funktion begreift und ihrer Unlogik, und das Wunder also ihres Existierens. Und wahrlich, der ISMUS ist ein Isthmuß, der von dem Sparta der Selbstbetrachtungen ins heitere Europa führt. Und jeder Einwand dagegen ist so schlecht wie dieser Witz. Und schwächlich wie die blöden raffinierten Mechanismen von Eilzügen, die nächtlich über Brücken schwanken, gegen die Pferdekräfte einer gutgebauten Ideologie.

Man wird sagen, wir haben die Kunst gelästert, wir haben aber nur die Erlebnisform der Kunst gegen die Tätigkeit der Kunstverbreiter verteidigt. Diese Erlebnisform ist als etwas Ursprüngliches und Göttliches jedem Willen immanent. Und darf ungestört dort wachsen, wo sie soll: im Zusammenhang mit dem metaphysisch Programmatischen. Man wird uns Rationalisten schimpfen, aber der Fehler der Rationalisten war nicht, daß sie der Vernunft vertrauten, sondern, was sie schon für vernünftig hielten! Gilt doch selbst für die katholische Kirche der Satz, daß die offenbarten Wahrheiten durch menschliche Vernunft eingesehen werden könnten. Und so kündigen wir zur Fortsetzung unserer Bewegung folgende manifestantische Manifeste an:

Löblichkeit des Selbstmordes. Von Friedrich Kniepp
Theosophie der roten Schatten. Von Leon Kirchstein
Die Erotik. Von Sonja Laatsch
Theorie des Bluffs. Von Egon von Wollenberg
Theoretische Begründung des Stanismus. Von Friedrich Laatsch

- August Stech [Franz Pfemfert], nach: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938). Hg. Wolfgang Asholt, Walter Fähnders. Stuttgart Weimar 1995

 

Manifest Avantgarde

 

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