ai, Erster  Der Liegnitzer Kulturpark war mir ein denkbar unangenehmer Ort. Schon der Name war paradox. Alltags diente er als Exerzierplatz, wenn das Areal vor den Kasernen besetzt war, und sonntags zu Aufmärschen. Der Rasen war abgetreten, von Blumen konnte nicht die Rede sein. Im Zentrum stand eine riesige Granate, ein Blindgänger, der, wie die Inschrift auf dem Sockel lehrte, an die Eroberung der Stadt erinnerte. Eine mit Statuen gesäumte Allee führte darauf zu. Das waren die Kunstwerke, teils aus Gips, teils aus Beton. Freilich waren sie nicht für die Ewigkeit bestimmt. Wie Schigalew es in seinem Programm fordert, wurden die Eliten zuweilen liquidiert. Dann wechselte man, wie ich es zwei Mal erlebte, die Köpfe aus. Auch an den Straßenschildern und in den Wörterbüchern wurden Namen gestrichen und Daten geändert - kurzum, es gab keine Geschichte mehr, nur noch Geschehen.  Wie kam es, daß sich diese Wüste für eine Nacht so wunderbar veränderte? Es war ein Freitag, am Ersten Mai. Überall in Europa ist dies ein Tag der Feste und Mysterien. In Würzburg fuhr der Teufel in einer prächtigen Karosse durch die Stadt. Auf dem Brocken tanzten die Hexen; im Bodetal wurde Brunhilde gesehen. Die armen Seelen geisterten auf den Flüssen, unterirdische Glocken läuteten. Bei uns in Schlesien hieß es: wer dann um Mitternacht einen Stern fallen sieht, der soll in seinem Garten graben; er wird einen Schatz finden.

Nun waren die Umzüge Pflicht geworden, doch der Tag war geblieben, denn jedes Regime lebt vom Mythos, wenngleich in abgeschwächter Form. In der Menge mußte eine Erinnerung wirken, die sie, nachdem die Fahnen eingerollt waren, ins Freie trieb, dem wahren Festherrn zu. Er muß, wenn nicht erschienen, so eingetreten sein; die Verwandlung war außerordentlich. Auch ich wurde von ihr ergriffen, obwohl ich traurig gekommen war.

Nebel war aufgestiegen, wie oft um diese Zeit. Über ihm mußten Gestirne leuchten, aber Menschen und Dinge waren nur durch einen dichten Schleier, fast wesenlos, zu sehen. In den Wirtschaften der Stadt wurde aufgespielt, doch nur der Dithyrambus einer Pauke drang in den Kulturpark, wie ferne Gongschläge.

Ich ging durch die große Allee. Auch die Statuen hatten sich verwandelt; sie waren weder Kunstwerke noch deren Persiflagen mehr. Der Parteivorsitzende war zum Herakles geworden, der Henker zum letzten Beglücker, zum indischen Gott. Selbst der Beton enthüllte sein Geheimnis; seine Atome waren auch die des Marmors - ja unseres Herzens, unseres Hirns. Es war ganz still geworden; die Menge hatte sich im Park zerstreut. Sie hielt ein großes Beilager. - Ernst Jünger, Aladins Problem. Stuttgart 1983

Mai, Erster (2)   F schleppte mich wieder zu einer Dichterlesung. Anlaß Erster Mai. Nun einer von den Haus-Eluards und zehnmal verdünnten Nerudas. Jenes soziale Alibi für den erotischen Individualismus. „Ich lieg in deinen Armen", aber „ich denk dabei an den schlechtbezahlten Fabrikarbeiter." Machte nachher aus Zorn ein „vergebliches Gedicht für Neruda"; für den echten.

Es ist nichts los hier, Bruder, es ist nichts los.
Die Männer schliefen länger mit Nachttopfgeliebten,
denn es war Feiertag. Es ist nichts los.
Gemächlich nach dem Frühstück führte die Gewerkschaft
ein Auto mit Frauen, geschmückt und geschminkt,
mit transparenten Kleidern und Transparenten,
zur Maidemonstration. Es ist nichts los.
Die Sonne scheinte auf die Gabelfrühstück-Interessen,
Nelken und Vorurteile wehten im leisen Wind.
Es ist nichts los hier. Keinen Arschbreit kleiner
werden die Flugplätze, die unsre Sommernächte bedrohn.

- (met)
 

Fest Mai Arbeit

 

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