ai 68  Am 29. Mai 1968, am Vortag der Rede de Gaulles, der bereits nach Colombey aufgebrochen war, und in dem Moment, in dem das Los des Regimes auf Messers Schneide stand, herrschte in meinem Viertel am linken Seine-Ufer eine eigenartige Stimmung. Kleine »Diskussionsgruppen« sammelten sich am Gehsteigrand rund um die Agitatoren der Bewegung des 22. März, aber diese Diskussionsgruppen diskutierten so gut wie nicht: sie lauschten, stumm und ratlos, dem Spielleiter, sie kreuzten nicht die Klingen. Über Paris lag ein graues und kühles Wetter, das fast durchweg dasjenige der Jahreszeit der Barrikaden blieb. Die Bretterzäune der in Bau befindlichen Parkgarage in Sèvres-Babylone waren mit einem Verputz handgeschriebener oder hektografierter kleiner Plakate zugegipst: der Wind, der sie losriß, legte nach und nach ältere Schichten frei, die bereits einen oder zwei Tage älter waren, ins reine geschrieben mit einer plumpen, zähen Schülerschrift. Die Leute gingen schnellen Schritts, mit gesenktem Kopf, sehr isoliert, sehr besorgt; schon um acht Uhr leerten sich die Straßen. Es war keineswegs die elektrische Stimmung am Vorabend einer Revolution: eher eine flottierende Angst, gegen die nur die kleinen Gruppen Jugendlicher geimpft schienen, die unbekümmert zu dritt oder zu viert und mit einer auffallenden Unverschämtheit herumgingen, aber sehr wenig Lärm machten. Von Zeit zu Zeit ging ein von Kopf bis Fuß in grelles Rot gekleidetes Mädchen vorbei, provokant und aufsehenerregend inmitten der Menge wie ein großer Klatschmohn. Man hatte den Eindruck, etwas prasselte auf die passive und verblüffte Stadt nieder, ohne aber aus ihr abzufließen: in meiner Jugend, 1934 oder 1936, waren mir die Straßen unvergleichlich fieberhafter und explosiver erschienen. Weder erregte Stimmen, noch Geschrei, noch heftige Diskussionen; die Stille der Stadt, die in ihre besetzten und stummen Fabriken eingeschnürt war, verblüffte das Ohr, als wäre aus dem grauen Himmel Schnee gefallen.  - (grac2)

Mai 68  ⁽²⁾