Magnolie  Als die Lehrerin Santoni hinausblickt, um ihr kleines ländliches Reich mit einem liebevollen Blick zu begrüßen, traut sie ihren Augen kaum, wie man in solchen Fällen zu sagen pflegt. Wenn es überhaupt je, was unwahrscheinlich ist, einen solchen Fall gegeben hat. Die Magnolie, von der Lehrerin Santoni mit besonderer Sorgfalt überwacht, da sie gestern zwischen den dunklen grünen Blättern die erste schneeweiße Knospe hochgereckt hatte, die Magnolie steht nicht mehr an ihrem Platz in der Mitte der unteren Längsseite des Rechtecks. Nein, sie steht genau in der Mitte des Rasens, wo sich die zwei imaginären, aber vom geometrischen Standpunkt aus sehr realen Geraden begegnen, welche diagonal von einer Ecke zur anderen verlaufen, zehn Meter von dem Punkt entfernt, wo die Lehrerin Santoni und der Lehrer Santoni, damals noch am Leben, sie miteinander gepflanzt, immer wieder gegossen, aufgeharkt, ihr immer wieder gut zugeredet und sie im Wachsen unterstützt hatten. Der Rasen sieht von dieser Stelle bis zum neuen Standort der Magnolie unberührt aus. »Das gibt es doch nicht«, meint dazu verblüfft die Lehrerin Santoni. »Das gibt es doch nicht«, meinen dazu einstimmig am Telefon die Kolleginnen, egal ob im Ruhestand oder noch im Amt, denen die Santoni von ihrer Entdeckung berichtet. »Die hat doch schon immer in der Mitte gestanden, ich kann mich genau erinnern«, behauptet entschieden die Kollegin Ambrosoli, die im ganzen Schuldistrikt uneingeschränktes Ansehen genießt, »die hat noch nie woanders gestanden. Wie soll sie denn ihren Platz wechseln können? Eine Magnolie, die geht, das geht doch nicht.«

Als die Lehrerin Santoni noch die Aufsätze ihrer Schüler korrigierte, hätte sie das zweimalige »geht« mit Blaustift unterstrichen als unbedingt zu vermeiden.   - Gianni Rodari, Das fabelhafte Telefon. Wahre Lügengeschichten. Berlin 1997 (Wagenbach Salto 65, zuerst 1962)

 

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