Mäusemetamorphose  18. November 1916. Ich war nachts einmal aufgewacht und hatte bemerkt, daß der Unterstand von Mäusen bewohnt ist. Sie huschten über das Tischchen, knabberten am Brot und streiften einige Male so kunstreich an den geschliffenen Gläsern der Ungarn hin, daß es eine gar liebliche Folge heller Klänge gab. Dadurch war das Widerliche des Getiers auf einmal aufgehoben, etwas geisterlich Koboldisches lag in der Luft, und vor einem ganzen Theater lustigster Mäusemetamorphosen schlief ich ein. Immer mehr entfärbten sich dabei die Tiere; schließlich waren sie alle glänzend weiß und liefen auf einer grünen Fläche hin und her. Als ich sie aber näher betrachten wollte, stand ich am Billardtisch eines dunstigen Kaffeehauses, wo ein unsichtbares Orchester fernher dudelte, und statt der Mäuse sah ich weiße Kugeln auf dem grünen Tuche laufen. Einziger Spieler am Billard war jener Rumäne, dem wir auf dem Berge das Morphium eingespritzt haben. Mit wiegendem Tänzerschritt umkreiste er den Tisch und hielt mit leisen, deutenden Bewegungen seines Stabes die weißen Bälle in Lauf, ohne sie zu berühren. Diese wurden immer glänzender; wie Kreisel summend, mit sphärischer Sicherheit rollten sie hin und her auf dem grünen Stoff; keiner störte den andern, und wenn sie von einem Rande zurückschnellten, verstärkten sie Geschwindigkeit und Licht. Eigentlich glichen sie einander genau; doch dünkte mich bald einer besonders herrlich, ja ich fühlte mein ganzes Schicksal an ihn gebunden, — wenn er stillstand oder mit einem anderen zusammenstieß, mußte grenzenloses Unheil geschehen. In einiger Entfernung ging Regina als Scheuermädchen von Tisch zu Tisch, las Zigarrenstummel und zerbrochene Gläser auf, und warf sie in einen Kehrichteimer, den sie mühsam daherschleppte. Plötzlich stand sie bei mir und flüsterte: „Weißt du's schon ? Eben bin ich deinem Schatten begegnet." Dann trat sie an das Billard, ergriff gelassen meine wunderbare Kugel, warf sie zu dem übrigen Kehricht und setzte den Deckel auf den Eimer. Der Rumäne, der nun auf einmal Glavina glich, spielte weiter; seine Augenhöhlen waren voll Schnee, er schien nichts zu vermissen. Ich aber hob die Hand und schlug Regina auf die Stirne, da schlief sie stehend mit unbeschreiblich seligem Lächeln ein. Der Ball jedoch gab im Eimer keine Ruhe; man hörte ihn mit immer höherem Tone weiter kreiseln und mitunter pfeifen, wie Mäuse pfeifen. Dabei wurde der Boden unruhig; ich hatte Mühe, mich aufrechtzuhalten. Alles schwankte; Regina, die schlaferstarrte, noch immer lächelnd, neigte sich wie eine Bildsäule, übermenschlich groß, zu mir herüber, wie um mich zu erschlagen.  - Hans Carossa, nach (je)
 
 

Maus Metamorphose

 

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