Märchenverständnis    MIN. DIR.: Ich habe mein Lebtag gern Märchen gelesen und nicht gerade sehr geordnet und nicht planmäßig, aber doch einfach Punkt für Punkt einzelne Märchen in Angriff genommen, sie laut mit meiner Frau zusammen gelesen, um ihr dann eine Analyse ins Stenogramm zu diktieren.

So haben wir bisher nur von etwa 30 Märchen eine sehr knappe Analyse unter juristischen Gesichtspunkten im Stenogramm.

Die Frau des Min. Dir., aus dem Stenogramm vortragend, später stenografiert sie. Neben ihr der Beamte.

FRAU (liest aus Stenogramm):

»Katze und Maus in Gesellschaft. Geschichte einer Gaunerei, besser gesagt: der Begaunerung der Maus durch die Katze mit schließlich tödlichem Ausgang.« (zu ihrem Mann): Der Wolf und die 7 Geislein?

MIN. Dm. (diktiert):
Das ist die Geschichte eines Massenmordes mit einem kurios günstigen und erfreulichen Ergebnis.

MIN. DIR.:
Ich will ein Märchen nennen, wo rechtlich was »drin« ist. Das wäre das Märchen vom Tischlein deck dich. Da passiert juristisch furchtbar viel. Wenn Sie die Frage stellen, was mit dem Nachlaß der Hexe in Hansel und Gretel geschieht: Die Hexe wird ja kein Testament gemacht haben, wer ist dann der Erbe? Durften die Kinder die Goldsachen und das Silber, die Edelsteine mitnehmen? Zweifellos gehört der Nachlaß nicht ihnen, sondern er gehört den Angehörigen der Hexe. Und wenn sie keine hat, ist der Fiskus Erbe . . .

Frau Teichert liest dem ehemaligen Vorgesetzten Titel vor aus dem Märchenindex.
GABI TEICHERT:
»Der arme Junge im Grab«

MIN. DIR.:
Nein! Was sind das denn für schreckliche Titel! Das sind wohl Sagen?

GABI TEICHERT:
Nein!

MIN. DIR.:
Und wenn Sie nach Dornröschen fragen, nach der 12. Fee. Nun, das ist wiederum ein Bereich, der rechtlich nicht erfaßbar ist, weil es sich um Wesen handelt, die außerhalb des Rechts stehen. Über dem Recht, jedenfalls jenseits. Die 12. Fee in Dornröschen wünscht dem Dornröschen, daß es von einer Spinne gestochen wird und stirbt oder jedenfalls dann tot daliegt, und darauf kommt die 13. Fee und damit wird die Sache geheilt (ein Märchen hat ja normalerweise gut auszugehen), und die wünscht, daß es nicht auf Dauer tot bleibt. Ich meine, die 12. Fee können Sie juristisch als Mörderin ansehen, nicht gerade als Schreibtischtäterin, aber doch sowas ähnliches, die mit Hilfe von bösen Wünschen jemand tötet, aber das geht ja nicht.. .
FRAGE: Und die 13.?
MIN. DIR.: Die 13. macht die Sache wieder gut.

MIN. DIR.:
In dem Märchen von den 7 Raben bekommt das Königspaar nach langen Jahren, nachdem es 7 Jungen hat, eine Tochter und die sind so glücklich, daß daraufhin der Vater beschließt, die 7 Söhne zu töten, damit das ganze Königreich nachher von der Tochter geerbt wird. Die fliehen, werden in 7 Raben verwandelt und die Tochter erlöst sie nachher. (Groß, vergnügt). Das wird nun ganz erzählt in dem Stil des Biedermeiers oder des Spätbarocks, daß die Eltern sich so schrecklich freuen, endlich eine Tochter zu haben, die sie sich schon so lange gewünscht haben und daraufhin, vor lauter Freude, ihre 7 Kinder töten wollen.

GABI TEICHERT: Und was ist das juristisch?

MIN. DIR. (Zustimmung erwartend): Juristisch ist das gar nichts. Der Vater hat eben die patria potestas und ist hier der König, absoluter Herr, und kann ungestraft seine Kinder umbringen. So ist das wohl doch gemeint?   - Alexander Kluge, Die Patriotin. Texte/Bilder 1-6. Frankfurt am Main 1979

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