Männerhand   Ihr langes dunkles Haar hing in einigen glatten Ergießungen über das Polster zu mir herab, und nach einer scharfen Kurve bemerkte ich, daß meine Hand, in dem Glauben mich abstützen zu sollen, nach dieser Lehne gegriffen hatte und nun dort verharrte. Die Hand war mir nur einen Zentimeter neben dem niederhängenden Haar liegengeblieben, sie lag dort, ohne daß sie es nur im mindesten berührte. Ich sah mich im Bus um, in Sorge, ob jemand die verräterische Lage dieser Hand bemerkt hatte. Ich mußte diese Hand nur um einen Zentimeter bewegen, um das Haar des Mädchens zu berühren, wahrscheinlich, ohne daß es selbst dies zu spüren bekäme. Ich bewegte diese Hand nicht, diese Hand bewegte sich nicht. Gebannt und verzweifelt war ich in der Überzeugung erstarrt, daß es nur eine Berührung sein durfte, die an der Haut eines normalen Menschen kaum mehr als die Empfindung eines unscheinbaren Kitzels hervorriefe, kaum die Ahnung eines Kitzels, so leicht und hauchdünn ... eigentlich war es für jeden normalen Menschen keine Frage, daß er auf eine solche Berührung ruhig verzichten konnte, niemand eigentlich verschwendete überhaupt einen Gedanken an eine solche Berührung. Daß mir davon das Herz zu flattern anfing, daß diese Idee mir Nadelstiche bis in die unteren Extremitäten trieb, eine unbezwingliche Nervosität, hatte zur Folge ... ich glaubte, meine Hand zucken zu sehen, der lähmende Drang, diesen einen Zentimeter augenblicklich zu überwinden, pulsierte unverkennbar in den Fingern ... daß mir der gesamte Arm zu Stein erstarrte und, bei allem von mir aufgebrachten Willen, bewegungsunfähig blieb ... hatte zur Folge, daß mir nur noch ein bedenkenloses Zufassen übrigblieb, ein blindes Ergreifen dieser Haarsträhnen, mit dessen Hilfe der Kopf der jungen Frau in meine Richtung herumflöge, so daß mit einem Mal die Blicke unserer Augen ineinanderfallen mußten, mein Auge mit einem Mal mitten in das Unglück ihres Antlitzes träfe, mit einem Mal der Name, der noch hinter ihrer Stirn verweilen mußte, seinem wahren und einzigen Besitzer zugerufen werden mußte ... oder daß ich feststellte, das Haar sei dasjenige einer Perücke, ich ahnte, ich erkannte es schon, diese unbewegliche Hand werde an einer Attrappe reißen, in meiner Hand werde sich dieses Haar in Kunststoff verwandeln, diese erstarrten und künstlichen Finger würden nur die kalten, gefühllosen Flechten einer perfekt gefertigten Perücke anrühren ... meine Hand, erbleicht, in weißer Hektik, als habe sie die fanatische Färbung meines schlaf entwöhnten Gesichts angenommen, bewegte sich nicht im geringsten. Es war ein Gedanke in dieser Hand, der mich tief verletzte, es war in ihr der schreckliche Verdacht, daß dieses dunkelglänzende, weiche und duftende Haar vor mir, obwohl ich es deutlich sah, nicht in Wirklichkeit existierte.

Meine Verluste nahmen zu: offenbar hatte ich sogar meinen Namen verloren, ja, ich wußte nicht mehr, wer ich war, mein Name war das Eigentum einer fremden Figur, nur dadurch war er bei den Weibern, und sie ahnten nichts davon. Mein Name war verloren, wie mir all dieses strömende, knisternde Haar verloren war ... es war verloren, da ich es nicht berühren durfte, ach, es war nicht mehr zu retten.  - (hilb2)

Männerhand (2) Es streckte sich von der eng an sein Knie gepreßten Hand Tomagras ein Finger aus, der kleine Finger, und ging kreisend auf Entdeckungsreisen. Er strich leicht über ihr Knie, und sie blieb still und fügsam; nun kreiste er vorsichtig auf dem seidigen Stoff des Strumpfes, dessen glänzende Wölbung Tomagra durch die halbgeschlossenen Lider musterte. Doch merkte er bald, daß die Kühnheit dieses Spiels nicht genügend belohnt wurde, denn der kleine Finger war zu fleischlos und zu ungelenkig, um mehr als winzige Gefühlsschauer übermitteln zu können; jedenfalls reichte er nicht aus, um die Form und Substanz dessen, was er berührte, klar zu empfinden.

Deshalb verband Tomagra den kleinen Finger wieder mit der ganzen Hand, aber nicht, indem er ihn zurückzog, sondern dadurch, daß er den Ring-, den Mittel- un den Zeigefinger ebenfalls ausstreckte: so ruhte sein Hand nun unbeweglich an diesem Frauenknie, und de Zug wiegte sie in einer Woge von Zärtlichkeit.

Jetzt erst dachte Tomagra an die anderen Fahrgäste: wenn auch die Dame selbst, gewährend oder nur geheimnisvoll unempfindlich, auf seine Frechheiten nicht reagierte, so saßen doch noch andere im Abteil, und es konnte wegen seines unsoldatischen Benehmens der Dam« gegenüber, die es auch noch zu dulden schien, zu einem Skandal kommen. Vor allem um die Dame von einem möglichen falschen Verdacht zu befreien, zog Tomagra seine Hand zurück, ja er versteckte sie, als sei sie die Schuldige. Dies wiederum war aber doch ein rechtes Versteckspiel, geboren aus heuchlerischer Überlegung, denn indem er die Hand verbarg, brachte er sie dem Körper der Dame, die auf der Sitzbank ziemlich viel Platz einnahm, nur näher.

Tatsächlich gaben die Finger, leicht wie ein Falter sich niedersetzt, die Empfindung weiter: da war sie. fetzt nur noch ein wohliger Ruck mit der ganzen Handfläche - und regungslos blieb der Blick der Witwe unter dem Schleier, kaum hob sich die Brust im Atemzug... Aber wie auch: schon war Tomagras Hand zurückgeeilt wie eine flüchtige Maus.

Sie hat sich nicht gerührt, dachte er, vielleicht will sie. Doch er dachte auch: Ein bißchen weiter, und es ist zu spät. Vielleicht lauert sie nur darauf, eine Szene zu machen.

Daraufhin legte Tomagra, nur um auf gefahrlose Weise etwas mehr Sicherheit zu gewinnen, seinen Handrücken auf den Sitz und wartete ab, ob nicht das Schütteln des Zuges die Dame unmerklich auf seine Finger rutschen lassen werde. Er wartete ab, ist dabei etwas ungenau gesagt: die Fingerspitzen hoben sich hin und wieder empor, ihr entgegen mit winzigen Sprüngen, wie hochgeworfen vom Rattern der Räder. Wenn er die Fingerspitzen bei einem gewissen Punkt in der Luft zurückhielt, dann nicht etwa, weil die Dame ein Zeichen ihres Mißfallens von sich gegeben hätte, sondern deshalb: wenn sie mit ihm einverstanden war, konnte sie ihm ohne jede Schwierigkeit mit einer winzigen Drehung entgegenkommen, sich auf die wartende Hand leicht niederlassen. Um ihr diesen freundschaftlichen Vorschlag seiner Beharrlichkeit zu übermitteln, versuchte sich Tomagra an einem diskreten Wedeln mit einem Finger; die Dame sah aus dem Fenster und spielte mit träger Hand am Verschluß ihrer Handtasche, auf, zu, auf, zu. War dies ein Zeichen, er solle sie in Ruhe lassen, eine letzte Absage, die sie ihm warnend zukommen ließ, ein Hinweis, daß ihre Geduld bald erschöpft sein würde? War es dies - so fragte sich Tomagra - war es das?

Jetzt drückte sich seine Hand schon wie ein Polyp mit zu kurzen Fangarmen an ihr Fleisch. Die Entscheidung war gefallen, er konnte nicht mehr zurück; aber sie, sie, sie war eine Sphinx.

Rückwärts wie ein Krebs kroch die Hand des Soldaten an ihrem Schenkel entlang; war sie auch vor den Augen der anderen Reisenden gut verborgen? Offenbar nicht: die Witwe hob ihr Jackett, das sie zusammengefaltet im Schoß hielt, und ließ es nach einer Seite hinunterhängen. Um ihm eine Abschirmung zu schaffen, oder um ihm den Weg zu versperren? Bitte: frei und ungesehen bewegte sich seine Hand jetzt, rankte sich empor, wagte ein erstes zärtliches Streicheln. Doch das Gesicht der Dame blieb abgekehrt, in die Ferne gerichtet. Zwischen ihrem Ohr und dem aufgesteckten Haar sah Tomagra ein Stückchen nackter Haut. Und in der Höhlung des Ohres pulsierte eine Ader; das war ihre Antwort an ihn, klar, gelöst, unwiderruflich. Plötzlich wandte sie ihr marmornes, stolzes Haupt - wie ein Vorhang schwankte der vom Hut herabwallende Schleier, verloren lag ihr Auge unter den schweren Lidern. Doch der Blick war über Tomagra hinweggeglitten, hatte ihn nicht einmal gestreift. Über ihn hinweg sah sie auf irgend etwas oder auf nichts, auf einen Gegenstand vielleicht, der ihren Gedankenflügen Halt gab und jedenfalls viel wichtiger und bedeutender war als er, Tomagra. Doch dies alles dachte er erst etwas später. Zuvor, bei ihrer ersten Regung, hatte er sich sofort zurückgeworfen, die Augen zugepreßt wie im Schlaf und versucht, die Röte zurückzudrängen, die sein Gesicht zu überziehen begann. Und auf diese Weise hatte er vielleicht die Gelegenheit versäumt, im ersten Blitz ihres Blickes eine Antwort auf seine letzten Zweifel aufzufangen.

Unter der schwarzen Jacke verborgen, war die Hand wie ohne Verbindung zu seinem übrigen Körper, für sich allein, abgestorben und mit den Fingern zum Puls zurückgekrümmt; keine wirkliche Hand mehr, ohne Empfindung, es sei denn die der Verzweigung der Knochen. Doch da die unterbrochene Reglosigkeit der Witwe, nach dem Ungewissen Kreisen ihres Blickes, wieder war wie zuvor, flössen Blut und Mut in diese Hand zurück. Und indem Tomagra aufs neue den Kontakt mit jenem nachgiebigen Stück Frauenbein aufnahm, wurde er gewahr, daß er eine Grenze erreicht hatte: die Finger spielten am Saum des Rockes, dahinter kam eine Leere, die Höhlung der Kniekehlen.

Dies war das Ende der heimlichen Freuden, dachte der Rekrut, und sie erschienen seiner rückblickenden Erinnerung in einem recht armseligen Licht, mochte er auch seine Vergnügungen geschickt dosiert und geizig gesteigert haben: dieses tölpelhafte Streicheln über ein Stückchen Seide hatte ihm nun wirklich nicht verweigert werden können, gerade im Hinblick auf seine bedauernswerte Lage als Soldat,- und auf ihre diskrete Weise, ohne es sich anmerken zu lassen, hatte die Dame es ihm gnädig gewährt.

Doch als Tomagra nun, trübselig, die Hand wieder zurückziehen wollte, stockte er, denn er stellte fest, daß die Dame ihre Jacke jetzt anders im Schoß hielt: nicht mehr zusammengefaltet (wie zuvor bestimmt), sondern nachlässig hingeworfen, so, daß ein Teil ihr nach vorn über die Beine hinabhing. Seine Hand befand sich also in einem dichten Zelt; ein letzter Vertrauensbeweis vielleicht, den die Dame ihm zukommen ließ, da sie sicher sein durfte, der Soldat werde den unüberbrückbaren Abstand zwischen ihnen beiden respektieren und die Gelegenheit nicht mißbrauchen. Mühevoll rief er sich noch einmal alles genau ins Gedächtnis, was zwischen der Witwe und ihm vorgefallen war, und er suchte in ihrem Verhalten irgend etwas zu entdecken, das auf ein größeres Entgegenkommen schließen ließ;  seine eigenen Gesten kamen ihm dabei abwechselnd vor wie unerhebliche, zufällige Berührungen und dann wieder wie entschiedene Intimitäten, die jeden Rückweg abschnitten.

Seine Hand ergab sich offenbar dieser zweiten Deutung seiner Erinnerungen, denn ehe er sich der Unwiderruflichkeit dieser Handlung klargeworden war, hatten die Finger den Paß schon überschritten. Und die Dame? Sie schlief. - Italo Calvino, Abenteuer eines Reisenden. München 1988 (dtv 10961)

Männerhand (3)

- Guido Crepax

Männerhand (4)

- Guido Crepax

Männerhand (5) »Mir ist klargeworden, daß es wichtigere Dinge im Leben gibt als einen blöden Job.«

»Ach ja? Was denn zum Beispiel?«

»Dich, zum Beispiel«, sagte ich.

Ich hatte genau das Richtige gesagt. Lächelnd drehte sie das Licht über den Spaghetti aus, kroch auf Knien zu mir und öffnete meine Hose. Meine Finger spielten in ihrem Haar, dann glitten meine Hände sanft hinunter zu ihrem Nacken. Der Gedanke war seltsam, daß dieselben Hände vor nur wenigen Stunden einen Mann erwürgt hatten. Töten war so einfach, viel einfacher als man glaubt. Ich brauchte nur ein wenig zuzudrücken.

»He!« schrie Julie.

»Tut mir leid«, sagte ich.

Ich hatte aus Versehen an einigen Haarsträhnen gezogen rnid entschuldigte mich mehrmals.

»Ist schon in Ordnung«, sagte sie. »Lehn dich zurück und genieß es.«

Hinterher fühlte ich mich recht entspannt. Außerdem war ich halb verhungert. Die Spaghetti waren zwar verkocht, aber ich lud mir trotzdem drei- oder viermal davon auf.  - Jason Starr, Top Job. München 2006 (SZ Kriminalbibliothek 31)

Männerhand (6)

- Milo Manara

Männerhand (7)

- N. N.

Männerhand (8)

Du meine Hand bist mehr als alle Weiber,
Du bist stets da, wie keine Frau erprobt,
Du hast noch nie in Eifersucht getobt,
Und bist auch nie zu weit, du enger Reiber.

Ovid, mein Lehrer weiland, hat dich recht gelobt,
Denn du verbirgst in dir ja alle Leiber,
Die ich mir wünsche. Kühler Glutvertreiber,
Dir hab' ich mich für immer anverlobt.

Ich stehe stolz mit dir im Räume
Und streichle meine bläulichrote Glans;
Schon quirlt sich weiß der Saft zum Schaume.

So zieh' ich aus Erfahrung die Bilanz:
Die Zweiheit freut mich nur im Wollusttraume,
Sonst paart sich meine Faust mit meinem Schwanz.

- Friedrich Schlegel, nach: Dein Leib ist mein Gedicht. Deutsche erotische Lyrik aus fünf Jahrhunderten. Hg. Heinz Ludwig Arnold. Frankfurt / M. Berlin Wien 1973

 

Hand

 

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