Mädchen sein  Ich betrachte sie und betrachte sie nicht; uninteressiert. Ich warte auf meine Verstärkung. Und da geschieht es, auf einmal, daß »ich« nicht mehr bin: wie in einer Falltür verschwunden, die offen war, ohne daß ich es wußte, und wo ich hineinfallen mußte. Unerhört!

Erst als ich die Zeitschrift wieder zur Hand nehme und das Mädchen nochmals betrachte, begreife ich. Sie ist ich geworden. Sogleich springe ich vom Bett herunter und laufe zur Küche, um mir eine Tasse Neskaffee zu machen, die ich herunterstürze. Aber das Unheil ist geschehen. Ich versuche meine Fassung nicht zu verlieren.

Eine Weile lang bin ich in schrecklicher Verlegenheit, verzweifelt, ich versuche alles anzuhalten, Gedanken, Impulse, sogar die Atmung, als könnte ich das Unheil und die Okkupation durch die Unbekannte abwehren, indem ich die Funktionen des Lebens, deren auch »sie« bedarf, um in mir leben zu können, bis zur äußersten Grenze des Möglichen stillege. Halb ersticke ich mich selbst. Kindliches Verhalten! Sollte dies nicht, sagte ich mir (und um so merkwürdiger, als ich noch keinerlei Zuneigung für das junge Ding empfinde -), sollte dies nicht jene berühmte Verschmelzung der Seelen sein, von der so viele Liebende geträumt haben, in aller Aufrichtigkeit, wenn sie sich danach zu sehnen glaubten, in der geliebten Frau aufzugehen, während sie doch nur danach verlangten, selbst zu sein, verliebt in sie, aber nicht auf sie zurückführbar.

Dennoch dachten sie immer daran, sich in ihr aufzulösen, die Narren. Wenn sie wüßten! Mädchen zu sein, wenn auch nur für fünf Minuten! Ich werde mich an diese fünf Minuten erinnern! Das Bad ihres sanften Körpers, ihrer gleichmäßigen Natur ohne Rauheiten fühlte ich im Innern des mehligen, an dessen Stelle er versetzt war. Bestürzende Identifikation! Aufschwünge, Spannungen, Schärfen schwammen in ihrer weiblichen Natur, vernichtigt, jede Spitze verschwunden. O dieser schwammige weibliche Wunsch zu gefallen! Ihn in sich fühlen, flüssig, milchig, gegen meine Natur, schwindelerregend, davon überschwemmt zu sein, und diese Geduld und diese Bereitschaft, recht erkannt zu werden, umschmeichelt zu werden, verwöhnt, gepriesen. Wenn sie wüßten, und auch, was das alles ausschließt! Verführerischer Zustand, voll Zauber, wenn man gegenüber ist, aber in mir empfinde ich ihn als unwürdig, ich möchte ihn so rasch wie möglich wieder verlassen. Und wenn das so bliebe? Ich kann mich so nicht hinnehmen, mich so nicht zeigen (alles was damit zusammenhängt, was ich in dieser Minute entdecke). Werde ich mich töten müssen? Aber Meskalin verwandelt sich, Meskalin dreht sich immer schnell weiter, Meskalin ist niemals fixiert.   - Henri Michaux, Turbulenz im Unendlichen. Die Wirkungen des Meskalins. Frankfurt am Main 1971

 

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