Lyrismus   Ich lasse all die dummen Definitionen und all die verworrenen Verbalismen der Professoren beiseite und erkläre euch, daß Lyrismus die äußerst seltene Fähigkeit ist, sich am Leben und an sich selbst zu berauschen. Die Fähigkeit, das trübe Wasser des Lebens, das um uns und in uns ist, in Wein zu verwandeln. Die Fähigkeit, die Welt mit den ganz besonderen Farben unseres wechselhaften Ichs zu färben.

Stellt euch vor, ein Freund von euch, der über diese lyrische Fähigkeit verfügt, befindet sich in einer Zone intensiven Lebens (Revolution, Krieg, Schiffbruch, Erdbeben usw.) und kommt gleich darauf, um euch seine Eindrücke zu erzählen. Wißt ihr, was euer lyrischer und erregter Freund instinktiv machen wird?...

Er wird zunächst beim Sprechen brutal die Syntax zerstören. Er wird keine Zeit mit dem Bau von Sätzen verlieren. Er wird auf Interpunktion und das Setzen von Adjektiven pfeifen. Er wird nicht darauf achten, seine Rede auszufeilen und zu nuancieren, sondern er wird ganz außer Atem in Eile seine Seh-, Gehör- und Geruchsempfindungen in eure Nerven werfen, so wie sie sich ihm aufdrängen. Das Ungestüm seiner Dampf-Emotion wird das Rohr des Satzes zersprengen, die Ventile der Zeichensetzung und die Regulierbolzen der Adjektive. Viele Handvoll von essentiellen Worten ohne irgendeine konventionelle Ordnung. Einzige Sorge des Erzählers: alle Vibrationen seines Ichs wiederzugeben.  - F. T. Marinetti 1913, nach: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938). Hg. Wolfgang Asholt, Walter Fähnders. Stuttgart Weimar 1995

 

Lyrik Stimmung Zartheit

 

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