uftsumpf    Die Tür des Flugzeugs - das fürsorgliche fliegende Haus hat eine Tür - geht langsam auf; draußen ist es noch Nacht, jetzt um fünf Uhr früh, die üblichen Scheinwerfer mimen eine Gangsterszene; aber die Luft, die hereinströmt und mich umfängt, während ich die Treppe hinuntersteige, verkündet mir, daß ich anderswo bin. Ich kenne diese Luft, ich beschnuppere sie und sie beschnuppert mich; es ist die Luft der Tropen, wässerig, weich, warm, riecht nach aufgeweichten Kräutern, nach Tieren, nach offenen Kloaken mit einem scharfen Beigeschmack nach Urin, nach wildem Tier im Käfig; diese Luft bewegt und erregt mich mit ihrer Fäulnis und ihrer Unschuld, mit ihrer Schwämme, Schimmel und Moos zeugenden Schwere; das ist die Luft Indiens: schmutzig und lebendig, eitrig und süßlich, faulig und kindlich.

Mit dieser Luft kann man spielen, in dieser Luft kann man sterben, auf jeden Fall durchdringt diese Luft alles, sie zählt dir deine Finger ab, sie faßt dich am Nacken, sie liebkost dich wie die Zunge eines Tiers, das eher neugierig als hungrig gerade aus dem Wald tritt. Es ist, als wurde ich in einen Luftsumpf eintauchen, Europa versinkt hinter meinem Rücken, es versinkt der reinliche Siddhartha, ebenso das Vedanta in der Erklärung von Aldous Huxley, wird zu einem hygienischen Gespenst; ich bin in Indien, an der Schwelle zu einer kontinentalen Krankheit, zu einem Ort, wo der erste Luftschwall schon etwas brummt von Auflösung und Unsterblichkeit, von Aussatz und Idolen. - Giorgio Manganelli, Das indische Experiment. Berlin 2004 (zuerst 1992)

 

  Luft

 

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