Es wendet sich 1813 das Glück des dicken Bonaparte. Er glaubt, aus Rußland zurück, nach einem Bad in warmem Wasser, nach Meldungen, die ihm die Bewegungen der Gegner vorhersagen, daß er »sein Glück erzwingen kann«; denn dies ist von der Französischen Revolution übriggeblieben: Glückserzwingung, das Machbare.
Darin ist der kleine Kaiser ein Spezialist. Wer ihn beobachtet hat, diese zwingende Empfindung, diesen Jagdverstand, vertraute ihm, daß er die Lücke in den Tatsachenhaufen erspäht. Im Gegensatz zu Hunger, Durst, Beutegier oder Vorteil ist sein Sinn auf nichts Wirkliches gerichtet, sondern auf die Lücke, in der der glückliche Ausgang wohnt, die Spur, die alle anderen nicht sehen, weil ja Glück selten ist. Die anderen sind auf Grund dieser Seltenheit ungläubig geworden.
Abb. Glückswechsel, Glückswende. Dieser Eroberer besitzt eine Reserve, d.
h. Ungläubigkeit gegenüber dem verbreiteten Unglauben ans Glück.
Das haben
ihm die Leute in der royalistischen Koalition abgelauscht. Sie haben gelernt,
ihm die Auswege zu sperren. Ihn durch Hoffnungslosigkeit zu ersticken. Doch
bei Dresden hat der Kaiser gezaubert: ein Glückswechsel. Der Kaiser empfängt
in Dresden. Später gelingt ihm nichts mehr. Die Glückswende hat Gründe, die
6 Monate oder 600 Jahre zurückliegen. - (
klu
)
- Peter Handke, Don Juan (erzählt von ihm selbst)
Frankfurt am Main 2006 (st 3739, zuerst 2004)
Lücke (3) Man hüte sich einzutreten, wo eine
große Lücke auszufüllen ist: thut man es jedoch, so sei man sicher, den Vorgänger
zu übertreffen: ihm nur gleich zu kommen, erfordert schon doppelten Werth. Wie
es fein ist, dafür zu sorgen, daß der Nachfolger uns zurückgesehnt mache; so
ist es auch schlau, zu verhüten, daß der Vorgänger uns verdunkle. Eine große
Lücke auszufüllen, ist schwer: denn stets erscheint das Vergangene als das Bessere,
und sogar dem Vorgänger gleich zu seyn, ist nicht hinreichend, weil er schon
den Erstbesitz voraus hat. Daher muß man noch Vorzüge hinzuzufügen haben, um
den Andern aus seinem Besitz der höhern Meinung herauszuwerfen. -
(
ora
)
Lücke (4) Der Kater Grison ist tot. Der letzte Überlebende aus der Schar von Katzen, die ich noch zu Beginn des Krieges hatte. Aufgenommen im Jahre 1934, als er ein, vielleicht anderthalb Jahre alt war. Er war also etwa ein Dutzend Jahre alt. Höchstwahrscheinlich Angina pectoris. Noch eine Lücke für den einsamen Mann, der ich bin, noch ein Lebensgefährte, der mir fehlt. Wenigstens habe ich ihn sehr verwöhnt, liebkost und umsorgt. In ihm liebte ich all die letzten, zu denen er gehörte und die ich verloren habe. Ihm und der Katze Minette, die ich im vergangenen Jahr aufgenommen habe, habe ich oft meine Fleischration gegeben, seit alles so knapp geworden ist.
Die Meerkatze hat ihn den ganzen Tag über in allen Zimmern gesucht. Vorhin
habe ich die Meerkatze in das Zimmer gelassen, wo der tote Grison liegt. Erst
hat sie überall gesucht und sich umgeguckt. Dann hat sie den Kopf gehoben und
zu den Möbeln hochgeblickt. Sie hat die Beine über den Tisch herabhängen sehen.
Sie ist hochgeklettert. Hat zunächst unbeweglich hingeguckt. Ist dann um Grison
herumgestrichen und hat mich dabei immer angesehen. Ich dachte, sie würde die
Watteschicht hochheben, die den Kopf verbarg. Doch nein. Sie hat sich dann vor
ihn hingestellt und angefangen, ihn zu flöhen, wie sie es sonst ständig tat.
Die Starre des Kadavers hat sie wohl stutzig gemacht. Sie hat sofort aufgehört,
ist vom Tisch heruntergeklettert und in ihr Zimmer zurückgegangen. - (
leau
)
Lücke (5) Ich erwachte davon, daß Jel Idézö
den Kasten neben meinem Bett geräuschvoll zur Seite schob und ein seltsames
Instrument, das wie eine Waschrumpel aussah, über deren Rücken eine Reihe von
Darmsaiten gespannt war, hervorholte. Seine Frau saß wie vorher auf dem kleinen
Hocker vor der Türe und sah ihm zu. - Jel Idézö sah zu mir her und bemerkte,
daß ich aufgewacht war. »Ah, Hans ist auch wieder wach!« sagte er. - »Für jeden
Bieresch, heißt es«, setzte er ein offenbar schon vorher begonnenes Gespräch
fort, tat aber trotzdem so, als richte er seine Worte an mich, »für jeden Bieresch
also steht ein breiter Sessel bereit. - Mich hat das Leben in die schmälste
Lücke gezwängt, die zu finden war. Wahrscheinlich bin ich wohl auch kein richtiger
Bieresch, sondern verkaufe ihnen bloß Hunde für ihre Seelen. - Auch ›Halbwegs‹
war einer von ihnen!« sagte er und tätschelte das tote Tier. »Den Lebenden verkauft
man die Hunde, den Toten schreibt man Gedichte.« - Klaus Hoffer, Bei den Bieresch. Frankfurt
am Main 1986 (zuerst 1979/1983)
Lücke (6) Das Wesentliche auf den Wanderungen
des Zeichners ist das Bemerken jener Lücken,
die da hin und wieder ganz plötzlich von denen da auf der anderen Seite
für den Wanderer soweit geöffnet werden, dass er für einen Moment das Universum
erblickt. Es sind jene Lücken, durch die allein wir das Grössere zu sehen
vermögen. Nicht, dass wir das Gesehene auch erkennen könnten — aber eine
Ahnung überkommt uns dabei schon. Nun - so ein Loch
kann sein: in der Pupille des Gegenüber aber auch im Schatten über der
zuckenden Halsschlagader - es kann sein zwischen den Blättern einer Arnica
mit der Blickverlängerung auf das Wolkenband am Simplon hin - es kann sein
in der Ordnung eines Häuflein von Knöpfen oder in einem dieser Knöpfe selbst,
und auch sodann in der sich überschlagenden Welle einer Brandung mitten
in einem Möwenschrei. Wenn man uns nicht gnädig das Vergessen geschenkt
hätte - die Welt wäre ein Sieb, ein Kugelsieb - so eins, in dem man Salat
schwenkt. Und wir drin! und draussen all die fleischgewordenen Träume und
die offenbarten Wunder! Und all das nicht Traum und Wunder, sondern die
Verständlichste aller Klarheit. - (
jan
)
Lücke (7) Man hatte Wind davon bekommen, daß die Vietnamesen einen Angriff auf den Flughafen planten. Weil, die sind auch nicht blöd. Die sitzen doch nicht da und warten seelenruhig ab, bis die anderen ihr gigantisches Rollfeld fertig haben, auf dem sie dann in ihre Kampfbomber steigen, um alles abzuknallen, was ihnen vor die Flinte kommt. Bevor die Vietnamesen auch nur einen Finger rühren konnten, wurden die Funktionäre der Roten Khmer nach Thailand ausgeflogen. Im Schlepptau die chinesischen Ingenieure. Aus irgendeinem Grund, vielleicht weil sie sich irgendwas für den Flug oder die Zeit danach ausrechneten, konnten auch ein paar Frauen mit, darunter Tannys Mutter. Während die Bosse abzwitscherten, setzten die Militärs die Tunnelanlage unter Wasser. Dabei gingen schon mal eine ganze Menge der Arbeiter drauf, die da unten noch rummachten und es nicht rechtzeitig schafften, durch eins der Löcher nach oben zu kriechen. Obwohl es da oben auch nicht besser aussah. Oben wurden die restlichen Arbeiter nämlich wie Vieh zusammengetrieben und an Bambusstöcke gebunden. Wenn du so einen Bambusstock auf dem Rücken zwischen dir und einem Dutzend anderer Gestalten hast, weißt du bald nicht mehr, wo vorn und wo hinten ist. Vor allem kannst du dich nicht richtig bewegen. In Hundertergruppen ging es dann kilometerweit vom Rollfeld zu einer Bahnstrecke, wo schon eine abgetakelte Lok und ein Viehwaggon auf die Militärs warteten. Doch die hatten vorher noch was zu erledigen. Natürlich hatten sich schon auf dem Weg viele die Knochen gebrochen. Wer nicht mehr weiter konnte, den schleppten die anderen, die mit ihm an den Bambus gekettet waren, noch ein Stück mit. Wenn es aber zwei oder drei wurden, die zusammenbrachen, dann schafften das die ändern nicht mehr. Sie fielen auf die Straße und wurden abgeknallt.
Wer bis zu den Gleisen kam, mußte sich an den Rand einer Grube stellen, die
man in der Zwischenzeit mit ein paar Baggern ausgehoben hatte. Auf der anderen
Seite postierten sich die Wachmänner mit ihren Knarren. Dann kamen die Bulldozer
und trieben die Arbeiter in die Gruben. Zu hunderten stürzten sie nach unten
und stapelten sich in dem riesigen Loch. Schließlich wälzten sich die Bulldozer
über die ohnehin schon halbtoten Leiber. Man hatte wenig Zeit und wollte auf
Nummer sicher gehen. Der Zug wartete. Zuschütten war unnötig, obwohl immer noch
Schreie aus der Grube kamen. Die Schreie hielten auch noch eine Weile an. Nicht
nur während der Viehwaggon mit den Militärs am Horizont verschwand, sondern
auch noch die ganze Nacht und den nächsten Vormittag. Dann war es ruhig. Alle
waren verreckt. Fast alle. Man glaubt es nicht, aber zwölf haben es tatsächlich
geschafft. Die lagen wahrscheinlich irgendwo günstig in einer Lücke unter einem
Haufen anderer. Zwölf Männer. Zwölf von 3000. Mit letzter Kraft wühlten die
sich zwischen den Leichen heraus und taumelten in Richtung ihrer zerstörten
Dörfer. - (rev)
Lücke (8) Eigentlich ist die unheimliche Frage
gar nicht, wieso es auf dem Weg von Punkt H zu Punkt C überhaupt einen Ort geben
kann, der eine Lücke, der Inbegriff der Abwesenheit
ist. Diese Abwesenheit erscheint mir durchaus vernünftig und sinnvoll und von
einer Folgerichtigkeit, die ich keinesfalls herauszufordern wagte. Was mich
erstaunt, ist, daß es außerhalb dieses Ausfalls etwas gibt, da jede Ausnahme
vom Nichts, weil es eben eine Ausnahme ist, nicht
frei sein kann von Gesetzesübertretung, die wiederum an Fehler und Frevel teilhat.
Kurz gesagt, was mich angesichts dieser Lücke erstaunt, ist die Tatsache, daß
es mich gibt; und ich muß nun denken, daß mein Dasein etwas zugleich Ruchloses
und Schreckeneinflößendes ist, da es gegen das Dasein der vollkommenen Lücke
einen Einwand vorbringen kann. Das Gefühl, das dieses weiterlebende Hindernis
in mir erregt, ist somit ein Staunen mir selbst gegenüber. Wenn ich es wagen
würde, in die Lücke einzudringen - bisweilen habe ich mit dem Gedanken gespielt,
habe armselige Pläne dazu entworfen -, konnte das dem Anschein nach das Ende
der Lücke bedeuten; das heißt: wenn ich in den Schlund
hineingehen würde, könnte ich doch nicht in ihn vordringen, denn in demselben
Maß, wie ich vordringen würde, zöge sich die Lücke zurück, und ich bliebe immer
an ihrem Rand, wäre nicht imstande, in das einzudringen, was nicht ist. Aber
nehmen wir an, ich würde nicht etwa empfangen, sondern gerade im richtigen Maße
ignoriert, daß ich eindringen dürfte; in diesem Fall wäre ich, so sage ich mir,
eine Ausnahme, eine Unterbrechung, ein Fehler, der eingeschlossen ist in die
Regel, in die Ganzheit, in die Genauigkeit. Da die Lücke weder Anfang noch Mitte
noch Ende hat, wäre ich Anfang, Mitte und Ende; die Lücke finge in mir an, würde
einen Kreis um mich beschreiben und in mir enden. Da die Lücke alle logischen
Merkmale des Unendlichen hat, ließe sie keine Änderungen an sich zu und dürfte
sich auch nicht vor mir zurückziehen, würde aber keinerlei Notiz von mir nehmen.
Darüber besteht kein Zweifel, daß ich von der Lücke weder akzeptiert noch abgelehnt
würde; deswegen würde die Lücke, indem sie mich ignoriert - denn etwas anderes
könnte sie nicht tun -, mir die Merkmale einer anderen, auf ihre Art homogenen
Lücke zuschreiben. Somit wäre ich eine Lücke in der Lücke, könnte aber von der
anderen Lücke nicht aufgesogen werden, obschon die Lücke logischerweise keine
qualitativen Unterschiede kennt. Die Lük-ke und ich würden ein Widerspruch und
zugleich dasselbe, beide Lücke, beide unwissend und unbekannt, beide Abwesenheit,
aber zwei Abwesenheiten, zugleich verwandt und unähnlich, und wir hätten beide
teil am Nichtsein, aber zu diesem Nichtsein würden wir über einander fremde
Wege gelangen. Wenn ich mich jedoch jeglichen Versuches enthalte, die ununterbrochene
Lückenhaftigkeit zu überwinden, wenn ich nicht versuche, mich ihr zu nähern,
begebe ich mich in eine vorteilhafte und äußerst unheimliche Lage. Ich weiß
mit Sicherheit, daß das Nichts ignorieren kann, was drinnen ist ~ obschon es
selbst kein »Drinnen« hat -, aber ich weiß nicht ebenso sicher, ob es nicht
gegen das, was draußen ist, stößt, Wenn ich außerhalb des Lückenortes weile,
wird mein fehlerhaftes Wesen riesengroß, aufdringlich und zugleich auch eine
Herausforderung, ich bin der Anfang, die Mitte und das Ende. Wenn das ganze
Universum, das nach meinem Dafürhalten existiert, eine reine Halluzination wäre,
die auf keinen Fall den folgerichtigen Zusammenhang des Schlundes Lügen strafen
könnte, dann bin ich mit meinen Halluzinationen doch immer noch jene monströse,
unerforschliche Ausnahme von der Lücke, von der die Lücke Kenntnis nehmen muß,
die sie zwar verleugnen, aber nicht ignorieren kann, obschon die Lücke nichts
kennt als sich selbst. Aber was ich meine, ist folgendes: Das Selbst,
welches das Nichts kennt, erfährt eine Änderung durch die Tatsache, daß es mich
mit meinen Halluzinationen, mich den Fehler, die lückenhafte Lückenhaftigkeit
gibt. Die einzige Art und Weise, dem Nichts gegenüberzutreten, ist also, das
Nichts anzublicken und zu ihm zu sagen - wobei mich das folgende Pronomen amüsiert
- »Du bist das Nichts, aber ich bin, obwohl es unlogisch ist, nicht das Nichts,
auf keine Weise«. Also müßte das Nichts im äußersten Fall durch mich hindurchgehen
und nicht umgekehrt; aber das Nichts kann durch kein Etwas hindurchgehen, ohne
selbst zu nichts zu werden, und das Zunichtswerden des Nichts erscheint - obschon
sprachlich tadellos - als eine unheilbare Lösung und zugleich eine Niederlage
des Nichts, die sprachlich unmöglich ist. Dies ist also unser Zustand: wir sind
fremd und blutsverwandt, im Nichtsein miteinander verbunden, Wurzeln gegenseitiger
Zerstörung. Wir können einander nur messen, obschon wir wegen unserer verschiedenen
Bewegungen unmeßbar sind, und wir können einer des anderen Hinterhalt und Schicksal
sein, und in diesem schweigsamen Zwiegespräch dauern wir fort als widersprüchliche
Lücken, als Gründe und Irrgründe. - Giorgio Manganelli, Kometinnen
und andere Abschweifungen. Berlin 1997
Lücke (9)
LÜCKEN Armut ist eine Lücke |
- Bai Dao, nach
(frach)
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