otterie   Im Jahr 1768, als ich in der hiesigen Hofapothecke (in Berlin) die Apotheckerkunst erlernte, hatte ich in der 72sten Ziehung, der Königl. Preusischen Zahlenlotterie, die am 30sten May desselben Jahrs geschähe auf die Zahlen 22 und 60 gesezt.

In der Nacht vor dem Tage der Ziehung träumte mir, daß des Mittags gegen 12 Uhr, als zu welcher Zeit gewöhnlich die Lotterie gezogen zu werden pflegt, der Hofapothecker zu mir herunter schickte, und mir sagen ließ, daß ich zu ihm herauf kommen sollte; als ich hinauf kam, sagte er zu mir, ich sollte sogleich jenseits des Schlosses zu dem Auctions-Commissarius Herrn Mylius gehen, und ihn fragen, ob er die ihm committirten Bücher erstanden habe ? sollte aber ja bald wieder kommen, weil er auf die Antwort warte.

Das ist vortreflich, dachte ich bey mir selbst (nämlich noch immer im Traum) jezt wird gerad die Lotterie gezogen, da will ich so gleich, so bald ich meinen Auftrag ausgerichtet habe, geschwind nach dem General-Lotterieamte hinlaufen und sehen, ob meine Nummern heraus kommen, (die Lotterie wurde damals auf offener Straße gezogen) wenn ich nur hurtig gehe, so komme ich doch noch früh genug wieder zu Hauße.

Ich gieng also sogleich (noch immer im Traum) meinem erhaltenen Befehl zufolge zu dem Auctionscommissarius Herrn Mylius, bestellte meinen Auftrag, und nach erhaltener Antwort lief ich eiligst nach dem General-Lotterieamt an der Jägerbrücke. Ich fand hier die gewöhnliche Zurüstung, und eine ansehnliche Menge Zuschauer. Man hatte schon angefangen die Nummern in das Glücksrad hinein zu zählen, und in dem Augenblick als ich ankam, wurde Nro. 60 vorgezeigt und ausgerufen. O dachte ich das ist eine gute Vorbedeutung, daß gerade eine von meinen Nummern ausgerufen wird, indem ich dazu komme.

Da ich nicht lange Zeit hatte, so wünschte ich nun nichts mehr, als daß man mit dem Hereinzählen, der noch übrigen Nummern so viel als möglich eilen möchte. Sie wurden endlich alle hereingezählt, und nun sähe ich dem Waisenknaben die Augen verbinden, und nachher auf die gewöhnliche Art die Nummern ziehen.

Als die erste gezogene Zahl vorgezeigt und ausgerufen wurde, so war es Nro. 22. Schon wieder eine gute Vorbedeutung dachte ich, nun wird 60 gewiß auch heraus kommen! es wurde die zweyte Nummer gezogen, und siehe da, es war Nro. 60.

Nun mögen sie meinetwegen ziehen was sie wollen, sagte ich zu jemand, der neben mir stand, meine Nummern sind heraus, ich habe nicht länger Zeit, indem drehte ich mich um, und lief spornstreichs zu Hauße. —

Hier erwachte ich. - (still)

Lotterie (2)  Ein Sklave stahl ein scharlachrotes Los, das ihm bei der Ziehung Anspruch daraufgab, die Zunge verbrannt zu bekommen. Eben dies wurde dann als Strafmaß für Losdiebstahl im Gesetz verankert. Einige Babylonier befanden, er habe in seiner Eigenschaft als Dieb das weißglühende Eisen verdient; andere, großmütig, meinten, der Henker solle es gegen sich selbst richten, weil es der Zufall so gefügt hatte... Es kam zu Unruhen, zu beklagenswertem Blutvergießen; aber das babylonische Volk setzte schließlich seinen Willen durch, gegen den Widerstand der Reichen. Das Volk erreichte voll und ganz seine edelmütigen Ziele. An erster Stelle, daß die Gesellschaft die totale Macht übernahm. (Diese Vereinheitlichung war nötig wegen der Weitgespanntheit und Vielschichtigkeit der neuen Verfahren.) An zweiter Stelle erreichte es, daß die Lotterie geheim, kostenlos und allgemein wurde. Der geschäftsmäßige Losverkauf wurde abgeschafft. Jeder freie Mann, der in die Mysterien des Baal eingeweiht war, nahm automatisch an den heiligen Ziehungen teil, die in den Labyrinthen des Gottes alle sechzig Nächte erfolgten und sein Schicksal bis zur nächsten Ziehung bestimmten. Die Folgen waren unberechenbar. Ein glücklicher Spielausgang mochte ihn in den Rat der Magier oder einen seiner Feinde (öffentlicher oder privater Art) ins Gefängnis bringen oder ihn im friedlichen Dunkel seines Gemachs der Frau, die uns gerade zu beunruhigen beginnt oder die man nicht wiederzusehen erwartete, begegnen lassen; ein unglücklicher Spielausgang: Verstümmelung, alle Arten von Schande, Tod. Manchmal war eine einzige Tatsache — die gemeine Ermordung von G, die mysteriöse Verklärung von B — die geniale Lösung von dreißig oder vierzig Ziehungen. Die Ziehungsergebnisse zu kombinieren war schwierig; doch muß man bedenken, daß die Individuen der Gesellschaft allmächtig und schlau waren (und sind). In vielen Fällen hätte das Wissen, daß gewisse Glücksumstände ein Werk des puren Zufalls waren, deren Wert geschmälert; um diesen Nachteil zu beseitigen, machten die Agenten der Gesellschaft Gebrauch von Einflüsterungen und Magie. Ihre Schritte, ihre Manöver waren geheim. Um die heimlichen Hoffnungen, die heimlichen Ängste jedes einzelnen auszuforschen, verfügten sie über Astrologen und Spitzel. Es gab gewisse Steinlöwen, es gab eine heilige Latrine namens Qaphqa, es gab ein paar Spalten in einem staubigen Aquädukt, die nach allgemeiner Ansicht zur Gesellschaft führten; Boshafte oder Wohlwollende hinterlegten dort Anzeigen.  - J. L. Borges, Die Lotterie in Babylon, nach (bo3)

Lotterie (3)  Alle Leute unseres Kreises — Makler, Kleinhändler und Angestellte von Banken und Dampferkontoren — schickten ihre Kinder zum Musikunterricht. Unsere Väter hatten, da sie für sich selbst kein Fortkommen sahen, ein Lotteriespiel erdacht, in dem der Einsatz die heranwachsende Generation war. Dieser Wahnwitz war in Odessa weiter verbreitet als anderswo. Tatsächlich lieferte unsere Stadt jahrzehntelang die Wunderkinder für die Konzertbühnen der Welt. Aus Odessa stammten Mischa Elmann, Zimbalist und Gabrilowitsch, bei uns begann auch Jascha Heifez.

Wenn ein Knabe vier, fünf Jahre alt war, brachte die Mutter das winzige, schwächliche Wesen zu Herrn Sa-gurski. Sagurski unterhielt eine Wunderkinderfabrik, eine Fabrik für jüdische Zwerge mit Spitzenkrägelchen und Lackschuhchen. Er spürte seine Objekte in den Elendsvierteln der Moldawanka und den übelriechenden Höfen des Alten Basars auf. Sagurski vermittelte nur die Anfangsgründe, später kamen die Kinder zu Professor Auer nach Petersburg. Im Herzen dieser Kümmerlinge mit den aufgedunsenen blauen Köpfen lebte eine mächtige Harmonie. Sie wurden berühmte Virtuosen. Und so beschloß mein Vater eines Tages, es den anderen gleichzutun. Obwohl ich schon aus dem Alter der Wunderkinder heraus war — ich war vierzehn Jahre alt —, konnte man mich meiner Größe und Zartheit nach gut und gern als Achtjährigen ausgeben. Darauf setzte mein Vater alle Hoffnung.

Man führte mich zu Sagurski. Aus Achtung vor meinem Großvater erklärte er sich mit einem Entgelt von einem Rubel je Stunde einverstanden — ein sehr niedriger Preis. Mein Großvater, Levi Jizchok, war das Kuriosum der Stadt und ihre Zierde. Er lief in Zylinder und zerfetzten Schuhen umher und wußte in den undurchsichtigsten Dingen Bescheid. Man fragte ihn, was ein Gobelin sei, weshalb die Jakobiner Robespierre verraten hätten, wie Kunstseide hergestellt werde und was ein Kaiserschnitt sei. Mein Großvater konnte alle diese Fragen beantworten. Aus Achtung vor seiner Gelehrsamkeit und Geistesverwirrung nahm Sagurski von uns nur einen Rubel für jede Stunde. Dabei mühte er sich redlich mit mir, aus Angst vor meinem Großvater, denn nichts lohnte die Mühe. Wie Eisenspäne lösten sich die Töne von meiner Geige. Sie schnitten mir selbst ins Herz, doch mein Vater blieb fest. Zu Hause war nur noch von Mischa Elmann die Rede, den der Zar persönlich vom Militärdienst freigestellt habe. Zimbalist sei, erzählte mein Vater, dem englischen König vorgestellt worden und habe im Buckinghampalast gespielt; Gabrilowitschs Eltern hätten sich in Petersburg zwei Häuser gekauft. Die Wunderkinder brachten ihren Eltern Reichtum. Mein Vater hätte sich mit der Armut abgefunden,  aber er brauchte Ruhm.  - (babel)

Lotterie (4)  Dr. Banks führte sie durch einen Gang, in dem es stark nach Äther roch, zu einem Raum am hintersten Ende, wo die Kleidungsstücke und persönlichen Effekten der Patienten sauber gebündelt in Regalen aufbewahrt wurden. Er griff nach einem der Bündel mit einem Metallschild und legte es auf den blanken Holztisch.

«Das ist es.»

Ready starrte wie fasziniert auf die Zahl 219 auf dem Metallschild,

das an dem Kleiderbündel befestigt war, und flüsterte: «Die Todeszahl.»

Dr. Banks warf ihm einen Blick zu und sagte zu Grave Digger: «Die meisten unserer Angestellten spielen Lotto. Wenn ein Unfallpatient eingeliefert wird, befestigen sie das Schild mit der Todeszahl an seinem Bündel, und wenn er stirbt, setzen sie darauf.»   - Chester Himes, Heiße Nacht für kühle Killer. Reinbek bei Hamburg 1969  (zuerst 1859)

Lotterie (5)  Als Spiel oder Lotterie gezähmt und gebändigt, hat der Zufall aufgehört, eine berückende und gefährliche Kategorie zu sein. Wir spielen in der Lotterie, weil wir spielen möchten. Niemand zwingt uns dazu. Der gläubige Mensch sieht es ebenfalls als Zufall an, wenn ihm ein Glas zerbricht oder eine Wespe ihn sticht, aber den Tod führt er nicht auf den Zufall zurück; unbewußt scheint er zu glauben, daß Gottes Allmacht und Allwissenheit den Zufällen nur eine untergeordnete Rolle zuweist. Die Wissenschaft hat den Zufall als Effekt einer einstweilen noch unvollständigen Erkenntnis aufgefaßt, als Ergebnis unserer Unwissenheit, die durch weitere Entdeckungen beseitigt werden würde. Das ist kein Scherz; Einstein scherzte durchaus nicht, als er sagte: »Der Herrgott würfelt nicht«, denn: »He is sophisticated but He is not malicious«, was besagen sollte: Es ist schwierig, die Ordnung der Welt zu erkennen, aber möglich ist es, denn sie ist der Vernunft zugänglich.

Das ausgehende 20. Jahrhundert bringt nun eine allgemeine Abkehr von diesen in Jahrtausenden hartnäckig und verzweifelt behaupteten Positionen. Die Alternative »Zerstörung oder Schöpfung« muß schließlich aufgegeben werden. Gewaltige, dunkle Wolken kalten Gases, die in den Armen der Galaxien kreisen, zerfallen allmählich in Fragmente, die ebenso unvorhersehbar sind wie die Splitter eines zerspringenden Glases. Die Naturgesetze machen sich nicht trotz der Zufälle, sondern durch sie geltend. Die statistische Furie der Sterne, die milliardenfach abortieren, um einmal Leben zu gebären, das in Millionen von Gattungen durch eine zufällige Katastrophe hingemordet wird, um einmal in der Vernunft zu gipfeln — das ist die Regel und nicht die Ausnahme im Weltall. Sonnen entstehen aus der Vernichtung anderer Sterne, und in der gleichen Weise gerinnen die Überreste prästellarer Wolken zu Planeten. Das Leben ist einer der seltenen Gewinne in dieser Lotterie, und die Vernunft ist ein noch ungewöhnlicherer Gewinn in weiteren Ziehungen, verdankt sie ihre Entstehung doch der natürlichen Auslese, also dem Tod, der diejenigen, die ihm entgehen, vervollkommnet, und Katastrophen, welche die Chance des Auftretens vernunftbegabter Wesen plötzlich erhöhen können. Daß der Aufbau der Welt mit dem Aufbau des Lebens zusammenhängt, steht inzwischen außer Zweifel, doch ist der Kosmos ein ungeheuer verschwenderischer Investor, der das Anfangskapital im Roulette der Galaxien verschleudert, aber er hat einen Mitarbeiter, der eine gewisse Regelmäßigkeit in dieses Spiel hineinbringt: das Zufallsgesetz der großen Zahl.   - Stanislaw Lem, Das Katastrophenprinzip. Aus Lems Bibliothek des 21. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1983

Lotterie (6)   Im Jahre 1971 stellte John Maynard Smith die Hypothese auf, Sexualität werde vielleicht für solche Fälle gebraucht, in denen zwei verschiedene Lebewesen in einen neuen Lebensraum einwandern, weil die geschlechtliche Fortpflanzung in diesem Fall dazu beiträgt, beide Merkmale zu kombinieren. Zwei Jahre später beteiligte sich Williams erneut an der Diskussion, und zwar mit folgendern Argument: Wenn die meisten Jungen sterben, was bei den Populationen, bei denen die Jungen ihr Glück in weiten Reisen suchen, tatsächlich der Fall ist, dann handelt es sich bei den Überlebenden vielleicht nur um die, die am besten angepaßt sind. Es interessiert also nicht im geringsten, wie viele Junge von durchschnittlicher Qualität ein Lebewesen produziert. Was wirklich zählt, ist, eine Handvoll Junge zu haben, die außergewöhnlich sind. Wenn Sie wollen, daß Ihr Sohn Papst wird, dann besteht der beste Weg dahin nicht darin, viele gleiche Söhne zu haben, sondern darin, viele verschiedene Söhne zu haben - in der Hoffnung, daß einer davon gut, gescheit und religiös genug ist.

Die allgemein gebräuchliche Analogie für das, was Williams beschrieb, ist eine Lotterie. Asexuelle Fortpflanzung ist vergleichbar mit dem Besitz vieler Lose mit derselben Nummer. Um eine Chance zu haben, die Lotterie zu gewinnen, brauchen Sie viele verschiedene Lose. Wenn also eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür besteht, daß der Nachwuchs unter veränderten oder ungewöhnlichen Bedingungen zurechtkommen muß, dann dient Sexualität sowohl dem Individuum als auch der Art.  - Matt Ridley, Eros und Evolution. Die Naturgeschichte der Sexualität. München 1996

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