Lorbeerkranz  Der Kommissär verzog keine Miene. Er schaute zu den andern hinüber, die ums Grab standen, alles Polizisten, alle in Zivil, alle mit den gleichen Regenmänteln, mit den gleichen steifen, schwarzen Hüten, die Schirme wie Säbel in den Händen, phantastische Totenwächter, von irgendwo herbeigeblasen, unwirklich in ihrer Biederkeit. Und hinter ihnen, in gestaffelten Reihen, die Stadtmusik, überstürzt zusammengetrommelt, in schwarz-roten Uniformen, verzweifelt bemüht, die gelben Instrumente unter den Mänteln zu schützen. So standen sie alle um den Sarg herum, der dalag, eine Kiste aus Holz, ohne Kranz, ohne Blumen, aber dennoch das einzige Warme, Geborgene in diesem unaufhörlichen Regen, der gleichförmig plätschernd niederfiel, immer mehr, immer unendlicher. Der Pfarrer redete schon lange nicht mehr. Niemand bemerkte es. Nur der Regen war da, nur den Regen hörte man. Der Pfarrer hustete. Einmal. Dann mehrere Male. Dann heulten die Bässe, die Posaunen, die Waldhörner, Kornetts, die Fagotts auf, stolz und feierlich, gelbe Blitze in den Regenfluten; aber dann sanken auch sie unter, verwehten, gaben es auf. Alle verkrochen sich unter die Schirme, unter die Mäntel. Es regnete immer mehr. Die Schuhe versanken im Kot, wie Bäche strömte es ins leere Grab. Lutz verbeugte sich und trat vor. Er schaute auf den nassen Sarg und verbeugte sich noch einmal.

»Ihr Männer«, sagte er irgendwo im Regen, fast unhörbar durch die Wasserschleier hindurch: »Ihr Männer, unser Kamerad Schmied ist nicht mehr.«

Da unterbrach ihn ein wilder, grölender Gesang:

»Der Tüfel geit um,
der Tüfel geit um,
er schlat die Menscher alli krumm!«

Zwei Männer in schwarzen Fräcken kamen über den Kirchhof getorkelt. Ohne Schirm und Mantel waren sie dem Regen schutzlos preisgegeben. Die Kleider klebten an ihren Leibern. Auf dem Kopf hatte jeder einen Zylinder, von dem das Wasser über ihr Gesicht floß. Sie trugen einen mächtigen, grünen Lorbeerkranz, dessen Band zur Erde hing und über den Boden schleifte. Es waren zwei brutale, riesenhafte Kerle, befrackte Schlächter, schwer betrunken, stets dem Umsinken nah, doch da sie nie gleichzeitig stolperten, konnten sie sich immer noch am Lorbeerkranz zwischen ihnen festhalten, der wie ein Schiff in Seenot auf und nieder schwankte. Nun stimmten sie ein neues Lied an:

»Der Müllere ihre Ma isch todet,
d'Müllere läbt, sie läbt,
d'Müllere het der Chnecht ghürotet,
d'Müllere läbt, sie läbt.« 

Sie rannten auf die Trauergemeinde zu, stürzten in sie hinein, zwischen Frau Schönler und Tschanz, ohne daß sie gehindert Wurden, denn alle waren wie erstarrt, und schon taumelten sie wieder hinweg durch das nasse Gras, sich aneinander stützend, sich umklammernd, über Grabhügel fallend, Kreuze umwerfend in gigantischer Trunkenheit. Ihr Singsang verhallte im Regen, und alles war wieder zugedeckt.

»Es geht alles vorüber,
es geht alles vorbei!«

war das letzte, was man von ihnen hörte. Nur noch der Kranz lag da, hingeworfen über den Sarg, und auf dem schmutzigen Band stand in verfließendem Schwarz: »Unserem lieben Doktor Prantl.« Doch wie sich die Leute ums Grab von ihrer Bestürzung erholt hatten und sich über den Zwischenfall empören wollten, und wie die Stadtmusik, um die Feierlichkeit zu retten, wieder verzweifelt zu blasen anfing, steigerte sich der Regen zu einem solchen Sturm, die Eiben peitschend, daß alles vom Grabe wegfloh, bei dem allein die Totengräber zurückblieben, schwarze Vogelscheuchen im Heulen der Winde, im Prasseln der Wolkenbrüche, bemüht, den Sarg endlich hinabzusenken.  - Friedrich Dürrenmatt, Der Richter und sein Henker. Zürich 1978

Lorbeer

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